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Weil du mich siehst

Weil du mich siehst

Titel: Weil du mich siehst
Autoren: Manuela Inusa
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alles egal.
     
    »Finn zuckt mit den Achseln. Ich nehme an, dass das ein Okay bedeutet. Ich kann nur soviel sagen, dass Finn seit einem Unfall kein Wort mehr gesprochen hat. Die Ärzte sagen, es sei nichts Physisches, also muss es eine traumatische Ursache haben. Vielleicht wird er uns ja demnächst selbst mehr mitteilen. Bis dahin sollten wir aber respektieren, dass er noch nicht mit uns sprechen möchte.«
     
    »Natürlich«, sagte Paula und das war alles, was sie an diesem Abend sagte.
     
    Sie war also blind. Jetzt konnte er es auch erkennen. An ihrem Gesicht, das ihm zugewandt war, an ihren Augen, die zwar geöffnet waren, aber nur ins Leere starrten .
     
    Sie hatte sich wirklich für ihn interessiert, wenn auch nur eine Sekunde lang. Wie merkwürdig, sonst scherte sich keiner um ihn. Seit er stumm war, war er für die meisten Menschen auch unsichtbar geworden. Welche Ironie, dass ausgerechnet die Person, für die er es wirklich war, ihn sah.
     
    ♥
     
    Als sie an dem Abend in ihrem Bett lag, dachte Paula an die Sitzung zurück. Sie waren acht in der Runde, alle Angehörige von Unfallopfern. Hinterbliebene. Über die meisten wusste sie bereits Einzelheiten, sie hatten sich der Gruppe mitgeteilt, schienen keine sonderlichen Schwierigkeiten damit zu haben, von sich und ihrem Kummer zu berichten.
     
    Da war ein vierzigjähriger Mann, Horst, der seine Frau mit aufgeschnittenen Pulsadern auf dem Küchenboden gefunden hatte. Bis heute redete er sich ein, es sei ein Unfall gewesen, doch sie alle wussten, was wirklich war.
     
    Dann gab es Ayla, eine junge Türkin mit Kopftuch. Eines Abends im Dunkeln waren sie und ihre beste Freundin auf dem Heimweg von ein paar Nazis überfallen und zusammengeschlagen worden. Ihre Freundin hatte es nicht überlebt. Ayla traute sich nicht mehr aus dem Haus.
     
    Connie, eine zweiundfünfzigjährige Frau, die ihre Tochter bei einem Zugunglück verloren hatte.
     
    Dennis, achtundzwanzig, hatte mitangesehen, wie seine Verlobte von einem Bus erfasst und totgefahren wurde.
    Er war sehr wütend und schrie viel. Paula beneidete ihn manchmal darum; wie gerne hätte sie auch ihre Wut hinausgeschrien, alles zusammengebrüllt. Doch sie konnte es nicht, konnte ihre Trauer nur weinend zum Ausdruck bringen.
     
    Melanie, deren zweijähriger Sohn beim Baden in der Wanne ertrunken war.
     
    Sascha hatte seinen Vater bei einem Jagdunfall verloren. Jemand hatte ihn für Wild gehalten und auf ihn geschossen.
     
    Sie alle hatten ihre Geschichte erzählt, sie alle litten unter Angstzuständen, unter Albträumen. Doch sie waren in der Lage, ihren Kummer freizulassen. Paula war in dem Stadium steckengeblieben, in dem sie ihn in sich hineinfraß und fast daran erstickte.
     
    Sie wollte ihn ja rauslassen, den gewaltigen Schmerz, vielleicht würde sie sich dann endlich etwas erleichtert fühlen, aber es war so schwer. Wahrscheinlich würde sie noch eine ganze Weile brauchen, bis sie soweit war, vielleicht würde der Tag auch niemals kommen.
     
    Sie fror. Sie zitterte. Wie jede Nacht.
     
    Mit eiskalten Füßen lag sie in ihrem Bett und versuchte, die dicke Decke um sich zu wickeln, doch sie schien keinerlei Wärme zu spenden. Kurz überlegte sie aufzustehen und sich eine zweite Decke zu holen, doch nicht nur wäre es den Aufwand nicht wert, sie genoss es auch zu frieren, so verrückt es klingen mochte.
     
    Zu zittern, den Schmerz der Kälte zu spüren, die sie innerlich seit zwei Jahren spürte, machte, dass sie sich lebendig fühlte. Zu frieren machte, dass sie sich gut fühlte. Wärme hätte sie nicht ertragen können, sie würde bittere Schuldgefühle mit sich bringen. Geborgenheit. Nein, so etwas hatte sie seit über zwei Jahren nicht gefühlt, sie wusste kaum noch, wie es war.
     
    ♥
     
    Die nächsten Tage vergingen. Paula saß die meiste Zeit auf ihrer Couch, von der sie nicht einmal die Farbe kannte – immer wieder hatte sie Frau Ludwig oder Kathi danach fragen wollen und es dann doch vergessen. In den Momenten, in denen sie Gesellschaft hatte, war es nicht mehr wichtig gewesen.
     
    Paula hörte Hörbücher, die Kathi ihr brachte. Zu Zeiten, in denen sie sehen konnte, hatte sie ein Buch nach dem anderen verschlungen. Jetzt konnte sie nur noch die Hörbuch-Version lesen . Sie bat Kathi bei jedem Besuch, ihr die neuesten Buchbeschreibungen aus dem Katalog vorzulesen und ihr die, die ihr gefielen, dann als Hörbücher zu besorgen.
     
    Kathi war ein Engel. Sie war Paulas engste und einzige
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