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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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hätten, den Gedanken an Weihnachten lange nachzugehen, dafür stand die Notwendigkeit, mit dem so abrupt veränderten Leben fertig zu werden, zu sehr im Vordergrund. Bäume waren zu fällen, Holz zu hacken, damit wir ein warmes Zimmer hätten und auch eine warme Mahlzeit. Wasser war heranzuschaffen aus dem kleinen See, der sich mitten auf unserer Insel im Seliger See befand, durch den die Wolga fließt. In die großen gemauerten Öfen mußten am Abend fast meterlange Holzscheite eingelegt werden, damit sie über Nacht austrockneten und vom Lockfeuer aus Späne und Tannenzapfen erfaßt werden konnten.
    Anfang Dezember fror der See zu. Da waren wir für die nächsten Tage, vielleicht Wochen, von aller Welt abgeschnitten und fürchteten uns vor der Verbindungslosigkeit mit der Außenwelt.
    Nun war mit uns eine hochschwangere Frau auf die Insel gekommen, die noch vor dem Zufrieren des Sees ins Krankenhaus nach Moskau transportiert werden mußte. Wir nahmen uns ihrer sechsjährigen Tochter an, die unsere ganze Familie mit den aus dem Zug mitgebrachten Läusen beglückte, so daß wir alle mit einem kerosingetränkten weißen Turban herumliefen, um diese Tierchen wieder loszuwerden.
    Ein paar Tage vor Weihnachten war ich einmal durch den Wald geschlendert, so im Bogen um das Institut herum, an der Poliklinik vorbei, an zwei Holzschuppen entlang, in die mich die Neugier trieb. Zwei Fässer standen darin mit verwischter, aber anscheinend deutscher Aufschrift, jedenfalls waren es keine kyrillischen Buchstaben. Ich wußte, daß die Insel vor noch nicht langer Zeit umkämpft gewesen war. Ich kam an zwei Gräbern vorbei, deren Holzkreuze umgefallen, die Namen nicht mehr zu entziffern waren. «Wofür liegt ihr nun hier?» hing ich meinen Gedanken nach und kehrte zum Schuppen und zu den Fässern zurück. In der Dämmerung konnte ich mühsam noch erkennen: Lebertran.
    Gerade richtig für unsere vielen Kinder, deren Ernährung uns ohnehin Sorge machte.
    Vom Inseldirektor bekamen wir den Lebertran, genau am Heiligen Abend, und verteilten ihn an die Kleinkinder, einen halben Liter für jedes Kind. Die Russen hatten Nüsse spendiert, die auch verteilt werden mußten.
    Mit dem Ruf «Riba ni nada wam?» (Brauchen Sie keinen Fisch?) hatte uns ein Russe für einen Teller Suppe und ein paar Rubel am Vorabend einen geräucherten Lachs gebracht. Ein Festessen. Er wurde auf einer schönen runden, für ihn eigens zurechtgesägten Baumscheibe serviert, dazu Brot, aus dem wir durch Rösten das Wasser vertrieben hatten. — Mit angeräucherten Tannenzweigen zauberten wir Weihnachtsstimmung ins Zimmer. Unter dem eben geschlagenen Baum brannten in kleinen Schälchen Kerosinlichter, Kerzen hatten wir nicht. Die Kinder freuten sich ihrer vom Vater selbstgebastelten Spielsachen. Wir waren todmüde, aber glücklich des Zusammenseins.
    Kurz vor Mitternacht klopfte es an unsere Fensterläden. Ich ahnte, was kommen sollte. «Meine Frau hat solche Schmerzen, können Sie nicht mal kommen?» — Natürlich konnte ich, ich mußte es ja.
    «Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht...» dachte ich und zog mir die Wattejacke und die Filzstiefel an, ging rüber ins Holzhaus.
    Da stand ich nun vor dem Bett der werdenden Mutter, die Müdigkeit war verflogen, ich war wieder hellwach und sah mich um. Nichts, aber auch gar nichts war vorbereitet für das zu erwartende Kind. Warmes Wasser? Der Ofen war aus. Die Nachbarn schliefen, sie hörten unser Klopfen nicht. Wo war eigentlich das Bettchen für das Kind? Oder wenigstens ein Ersatz?
    Während sie wehte und preßte, schickte ich ihren Mann, der so hilflos dabeistand, fort, hinüber zu dem meinen mit der Bitte, unseren Holzkorb auszuleeren, ihn so gut es ging sauberzumachen, ein altes Laken hineinzugeben, den Rest Kölnisch Wasser mitzubringen und die große Schere, den Topf mit warmem Wasser, der noch in der Küche auf dem Herd stehen müsse. Es dauerte nicht lange und mein Mann kam, brachte alles mit, auch den «Vater» (der noch keiner war), der aber wenigstens beim Tragen helfen konnte. Mein Mann entfernte sich zwar schnell wieder, ich bat ihn, auch den anderen gleich wieder mitzunehmen.
    Es ging nun sehr schnell. Die Wehen wurden immer heftiger, sie preßte und das Kind war da. Ein Mädchen. Da lag nun dieses kleine Etwas, verschmiert und blutig, und schrie. Mir zitterten die Knie. Die Mutter durfte meine Erregung nicht merken; es war an mir, ihr ein gewisses Gefühl der Sicherheit zu geben. Die
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