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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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Verwundbarkeit als unausweichliche Tatsache des Lebens vor Augen. Es bedarf der hingebungsvollen Zuwendung anderer Menschen, damit es überhaupt leben kann. Unzählige Eltern weltweit geben ohne zu zögern ihre eigenen Ressourcen her, um Neugeborene auf einen guten Weg ins Leben zu bringen. Dies zeigt nachdrücklich, dass die Vermeidung von Verwundung allein nicht ausreicht für ein humanes Leben. Dies gilt für jedes Neugeborene genauso wie für die gesamte Menschheit. Sie braucht um ihrer Humanität willen Menschen, die sich in der Liebe verletzlich machen. Erst die gewagte Hingabe macht das menschliche Leben human: Menschen, die sich unter Gefahr für den Frieden einsetzen, die Kinder gebären und versorgen, einen sexuellen Missbrauch zur Anzeige bringen, in der Wahrheitskommission schmerzliche Tatsachen zur Sprache bringen, einer Diktatur entgegentreten. All diese Praktiken sind ein Wagnis. Sie erhöhen die eigene Verwundbarkeit und laufen dem Bedürfnis entgegen, sich selbst zu schützen. Wie der Widerstand gegen Diktaturen zeigt, können sie sogar tödlich enden.
    Aber trotz der reellen Gefahr erschließt solche Hingabe Leben. Sie kann eine eigene Macht entwickeln, die nicht aus Übermacht heraus entsteht, sondern aus dem Wagnis der Verletzlichkeit wächst. Besonders wirksam wird diese Macht, wenn sie ein Gemeinschaftswerk ist. » Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnenzu handeln.« (Arendt 1994, 45) Ein besonderes Beispiel hierfür hat Deutschland im Jahr 2013 erlebt, als die Flutwellen an Elbe und Donau eine Welle der Hilfsbereitschaft auslösten. Hier haben Menschen das Gegenteil der Herodes-Strategie praktiziert, indem sie ihre Verwundbarkeit aufs Spiel setzten: die Einsatzkräfte, die mit Aufbietung aller Kräfte Menschen aus dem Hochwasser gerettet, Wohnungen ausgepumpt, Häuser und Dämme geschützt haben; die Spenderinnen und Spender, die freiwillig und offenherzig von ihren finanziellen Ressourcen abgaben und eine Kultur des Teilens praktizierten; die unzähligen Menschen von Jung bis Alt, die bis zum Umfallen Sandsäcke gefüllt, Deiche geschichtet, Einsätze über soziale Netzwerke koordiniert und Essen herbeigeschafft haben. Ihr uneigennütziger Einsatz war überwältigend. Es war ein weihnachtliches Ereignis.
    Dieser überwältigende Einsatz zeigt etwas Wichtiges: Der um sich greifenden Zerstörung etwas entgegenzusetzen und sich damit in den Dienst des Lebens zu stellen, das setzt Lebendigkeit frei. Die Gabe, die um eines höheren Gutes willen gestiftet wird und so zum Sacrifice wird, schenkt Energie, Tatkraft und Lebenslust. Im Wagnis der Hingabe bringt Leben neues Leben hervor. Die Menschen, die von der Flutwelle so hart getroffen wurden, waren am Boden zerstört. Aber die Unterstützung von Menschen, die sie vielleicht gar nicht kannten und die plötzlich da waren und zupackten, hat ihnen neuen Lebensmut geschenkt. Auch die Helferinnen und Helfer erfuhren eine überraschende Lebendigkeit. Sie waren völlig erschöpft, aber glücklich, weil sie die Zerstörung in Grenzen verwiesen und ein einmaliges Werk geschaffen haben. Sie sind dem Prinzip der Natalität gefolgt undhaben etwas Neues ins Spiel der Welt gebracht, das ohne sie nicht existiert hätte. Unverkennbar haben sie ein Zeichen der Hoffnung gesetzt.
    Wo man den Weg der Verwundbarkeit wählt, da geht man das Risiko des Scheiterns ein. Man hat ein Ziel vor Augen und ahnt zugleich die Schwierigkeiten, mit denen der Weg gepflastert ist. Man kann an den Schwierigkeiten scheitern, verwundet werden oder gar ins Bodenlose stürzen. Wer berührbar und »aufgeschlossen« ist, wird zugleich angreifbar und verletzlich. Häufig wird hier nicht nur etwas gegeben, sondern es geht um Scheitern oder Gelingen des eigenen Lebens. Jedes Sacrifice in diesem Sinn ist eine gewagte Gabe, eine Hingabe seiner und ihrer selbst. Vielleicht gibt man gerade jene Ressourcen weg, die man später selbst braucht. Oder man setzt sich der öffentlichen Kritik aus, weil man umstrittene Entscheidungen trifft. Das hat der evangelische Pastor Uwe Holmer Anfang des Jahres 1990 erlebt, als seine Familie sich bereit erklärte, Margot und Erich Honecker bei sich zuhause aufzunehmen. Er handelte aus christlicher Motivation heraus, indem er die Vaterunser-Bitte realisieren wollte: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Damit
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