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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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setzte er sich heftigen Angriffen in der Öffentlichkeit aus.
    Aber nur wenn man sich dieser Gefahr der Verwundung stellt, kann die Hingabe Leben erschließen. Wenn man Verwundungen riskiert, weil man dem Leben dienen will; wenn man aus voller Überzeugung ein Sacrifice gibt, so wächst hieraus eine neue Macht. Diese Macht aus Verwundbarkeit ist gewagt. Sie ist eine »gewagte Macht«, denn sie entsteht nicht aus Sicherheiten heraus. Sie verfügt nicht wie die Göttin Athene über Schutzmechanismen, Verteidigungssysteme und Waffen. Kein Mensch kann diese Macht gezielt erzeugen. Sie ist, wo immer sie sich zeigt und wirksam wird, eine Gnade.
    Das Gewaltpotential der Hingabe
    Hingabe hat es immer mit Opfern zu tun. Das macht sie gefährlich. Nicht jede gewagte Hingabe dient dem Leben. Auch die Selbstmordattentäter des 11. September 2001 in New York, auch die Schwarzen Witwen in Tschetschenien, auch der Christ Anders Behring Breivik in Norwegen haben Hingabe gewagt. Ihre Hingabe war bösartig, weil sie unsägliche Opfer von Anderen erzwang und prekäre gesellschaftliche Verwerfungen bewirkte. Sie potenzierte die Gewalt in viele Richtungen. Sich in diesen gesellschaftlichen Kontexten für Humanität einzusetzen ist eine entscheidende Aufgabe des Christentums. Es hat seine eigene gewaltproduzierende Geschichte, ist damit aber umso mehr dem Frieden verpflichtet.
    Hingabe spielt auch in anderen Religionen eine wichtige Rolle. Daher bietet sie einen Ansatzpunkt sowohl für den interreligiösen Dialog als auch für gesellschaftliche Debatten. Für welches Ziel ist man bereit, Hingabe zu wagen? Mit welchen Mitteln verfolgt man dieses Ziel? Sich hierüber intensiv auszutauschen, sich zu streiten und sich gegenseitig zu relativieren ist von großer Bedeutung für die Zukunft der Menschheit.
    Diese beharrliche Lebensmacht sorgt dafür, dass Menschen mitten in der Verwundbarkeit belastbarer werden. Sie gehen gestärkt aus dem Wagnis hervor. Das haben die Menschen gezeigt, die sich vor 2000 Jahren um die Krippe Jesu versammelten. Sie wurden nicht schwächer, indem sie ihre Ressourcen miteinander teilten und ihre eigene Verwundbarkeit riskierten. Sie gewannen als weihnachtliche Menschen eine neue Stärke. Auch heute ist diese gewagte Macht vielerorts am Werk. Sie kann sogar so stark werden, dass sie Diktaturen zu stürzen vermag. Das haben der Herbst 1989 gezeigt und neuerlich jene Menschen, die im »Arabischen Frühling« uneigennützig ihr Leben riskieren.
    Nicht immer tritt diese Macht ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und macht von sich reden. Menschen kümmern sich vielfältig und meist unauffällig um die Welt, in der sie leben. Beharrlich setzen sie auf den Neuanfang und vertrauen der Kraft der Natalität. Die biblische Weihnachtsgeschichte weckt Aufmerksamkeit gerade auch für diese unscheinbaren Orte, an denen gewagte Hingabe wirksam ist. Der christliche Glaube, der auf der Inkarnation Gottes in einem neugeborenen Kind gründet, setzt auf diese Lebensmacht, die aus dem Wagnis der Verletzlichkeit wächst. Sie glaubt an das Geheimnis von Geburt und Auferstehung, dass das gottgeschenkte Leben stärker ist als der Tod. Alle Menschen müssen mit den eigenen Brüchen und Verwundungen leben – sowohl mit denen, die sie zu Victims machen, als auch mit jenen, die sie freiwillig als Sacrifices geben. Sie können es aber auch, weil hier die Macht aus Verwundbarkeit wächst. Das christliche Wahr-Zeichen hierfür ist das neugeborene Kind in der Krippe.
Heute Weihnachten feiern – hingebungsvoll leben
    Martin Luther King (1929–1968), Pastor, Friedensaktivist und Kämpfer für die Gleichberechtigung der Schwarzen, hat kurz vor seinem Tod im Rückblick auf sein Leben gesagt: »Ich werde kein Geld hinterlassen. Ich werde keine vornehmen und luxuriösen Dinge hinterlassen. Ich möchte nur ein hingebungsvolles Leben hinterlassen.« (King 2008, 119) Sich in den Dienst des Lebens stellen, Hingabe wagen und selbst hingebungsvoll leben, das gehört zum Kern der christlichen Glaubenspraxis. Leben heißt, sich verschwenden. Ohne Zeit und Energie, materielle Güter und persönlichen Einsatz kann es nicht ausbrechen. Wenn man Intensität erstrebt, verausgabt man alle Kräfte, damit das Leben in Fülle aufbraust und in aller Intimität präsent ist. 37
    Wer sich strikt vor Verwundungen schützt, braucht immer mehr Mauern, Rüstungen und Waffen. Dies macht vielleicht unangreifbar . Es macht aber auch unberührbar . Das Leben spielt sich draußen
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