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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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ab, wo man selbst nicht ist. Wer jedoch Hingabe wagt, kann das Geheimnis des Lebens erfahren. Statt Starrheit gewinnt man Beweglichkeit, statt Vereinzelung geschieht Kommunikation, statt Isolation ereignet sich Intimität. Wenn man Mauern durchbricht und Fenster und Türen öffnet, wie es das Zweite Vatikanische Konzil tat, bekommt man mit, was sich draußen ereignet. Neue Wege öffnen sich und verlocken zum Aufbruch. Man kann Besuch empfangen und Neues erfahren. Man kann hinausgehen und Überraschendes erleben. Man kann sich selbst einbringen ins Spiel der Welt. Man steht mitten im Leben.
    Das Wunder des Anfangs offenbart sich hier als Wunder der Wandlung. Menschen legen ihre Rüstungen ab und öffnen ihr Visier. Im Alltag agieren sie stark mit Abgrenzungen zwischen Ich und Du, Mein und Dein. Aus guten Gründen schützt man die Ressourcen, die man für sich selbst und die eigene Gemeinschaft braucht. Das Weihnachtsfest aber zeigt, dass dies nicht alles ist, was das Leben ausmacht. Es führt ein alternatives Handeln vor Augen, das sich vom Fest ausgehend in den Alltag einschreiben will. Diese Alternative berührt die Humanität menschlicher Existenz. Es geht um ein Leben leidenschaftlicher Hingabe überall dort, wo sich der Einsatz lohnt. Hierfür steht Weihnachten, das große Fest der Geburt.
    So wundert es nicht, dass Weihnachten heute in religiösen wie in säkularen Kulturen eine große Faszination ausübt. Seine humane Botschaft kann man auch verstehen und wertschätzen, wenn man selbst nicht zum Christentum gehört. Wenn man nicht christlich ist, kann man Weihnachten sogar feiern. Denn hier geht es um ein christliches Fest, das über sich selbst hinausweist und die Grenzen der Religionsgemeinschaft überschreitet, indem es auf die Humanität menschlichen Lebens hinweist. Mit Weihnachten wird das Christentum kulturprägend. Und umgekehrt: Das Weihnachtsfest wird zu einem Weltkulturerbe der Menschheit. Symbolisch wird dies deutlich am bekanntesten Weihnachtslied »Stille Nacht«, das mittlerweile in mehr als 300 Sprachen übersetzt ist und gesungen wird. Es gehört zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe.
    Die Botschaft von Weihnachten kann unmittelbar verstanden werden von Menschen, zu deren Leben die Hingabe ganz selbstverständlich gehört. Indem sie diesesFest feiern, werden sie in ihrer Bereitschaft gestärkt, eine Kultur des Teilens zu praktizieren. Die anrührende Schönheit und Verletzlichkeit des Neugeborenen, um das man sich an der Krippe versammelt, öffnet Herzen und Hände. Einen besonderen Bezug haben diejenigen, die selbst Kinder zur Welt bringen oder zu deren Wachsen und Gedeihen beitragen. Kinder ziehen in die Intimität des Lebens hinein. Sie erwecken Zuwendung und Liebe. Mit dem neugeborenen Kind in der Krippe birgt das Weichnachtsfest das Geheimnis der Liebe, das tief im Verborgenen keimt, erstarkt und heranwächst. Mit diesem Kind schafft Gott eine Verbindung zu allen Neugeborenen dieser Welt. In seiner Geburt sind alle Geburten repräsentiert und auf das Leben hingewendet.
    Weihnachten ist das christliche Fest der Natalität. Es will die Gebürtigkeit im eigenen Leben und in der eigenen Gemeinschaft wirksam werden lassen, hier und jetzt. Das Leben aus der Kraft der Liebe erfordert es, sich selbst aufs Spiel zu setzen und sich für das Geliebte zu verschwenden. Leben wächst, wenn man zu geben bereit ist. Die Geschenke, die wir einander an Weihnachten machen, sind ein Zeichen hierfür. 38 Denn Leben will eines: leben. Es reicht den Menschen nicht aus, gerade so zu überleben, sondern es geht um ein Leben in Fülle, das intensiv, leidenschaftlich und mit allen Sinnen zu spüren ist – wach bis in die Fingerspitzen. Menschen sehnen sich danach, in dieser Weise intensiv zu leben, mit Leib und Seele, Gefühl und Willen, Herz und Verstand.
    Das Christentum begreift das Weihnachtsfest als »Heilige Nacht«. Es meint damit jenen geheimnisvollen Augenblick, wo alle Menschen an der Krippe nicht nur anwesend, sondern wirklich präsent sind, wach und lebendig in jeder Faser des Körpers und mit jeder Regung des Geistes. Dieses Ereignis schafft eine innige Verbundenheit mit allem Lebendigen. Die Liebe zu Gott, zu sich selbst, zu den Nächsten und zur Schöpfung ist nicht nur abstrakt, sondern sie ereignet sich. 39 Mechthild von Magdeburg beschreibt diesen mystischen Augenblick poetisch: »Ich bin in dir und du bist in mir. Wir können einander nicht näher sein, denn wir zwei sind in eins geflossen und sind
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