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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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neuen Kernstadt entwickelt. Daher ist die Arrival City »der Ort, an dem sich alles ändert«, wo »sich die nächste Mittelschicht herausbildet und die Träume, Bewegungen und Regierungen der nächsten Generation entstehen.« (7;10)
    Aber diese Entwicklung kann auch ausbleiben. Wenn die Menschen keine bezahlte Arbeit finden und wenn ihnen der Zugang zur Kernstadt nachhaltig verwehrt wird, dann rutscht der Randbezirk ab in Elend, Frustration und Verzweiflung. Solche Stadtviertel bergen ein enormes Konfliktpotential, denn hier kann jederzeit die Gewalt explodieren. 2013 hat sich dies in Stockholm gezeigt, als dort plötzlich, aus deutscher Perspektive wie aus dem Nichts, heftige Krawalle ausbrachen, die sich rasch auf andere Städte wie Uppsala und Malmö ausbreiteten.Autos und Häuser wurden abgefackelt, Geschäfte überfallen und ausgeraubt, die Polizei attackiert.
    Für die Entwicklung der Trabantenstädte sind der Arbeitswille, die Kreativität und vor allem die Kultur des Teilens unter den Neuankömmlingen wichtig. Aber sie allein entscheiden nicht darüber, ob sich ihr Ort zur Arrival City oder zum sozialen Abgrund entwickelt. Ein Schlüssel hierfür ist vielmehr das Verhalten der Kernstädte, auf die die Migrantinnen und Migranten ihren Ehrgeiz richten. Die Kernstädte erleben die Orte, die heimlich, illegal und rasant an ihren Rändern wachsen, häufig als Bedrohung. Sie sehen in der Migration ein Menetekel, das seine bedrohlichen Schriftzeichen ins eigene Innere einschreibt. Sie fürchten sowohl das Bedürfnis der Neuankömmlinge nach Ressourcen als auch das latente Gewaltpotential. Daher reagieren sie mit Herodes-Strategien. In ihren Augen handelt es sich um schändliche Orte, die mit abwertenden Bezeichnungen wie Slum oder Shantytown belegt werden. »Slum« bedeutet auch »Saustall«. Saunders berichtet von zahlreichen Beispielen, wie sich die Kernstädte dagegen abgrenzen. Sie machen die Schotten dicht, verweigern den Zugang in ihr Inneres und grenzen die Neuankömmlinge aus. Sie glauben, sich möglichst unverwundbar machen zu müssen. Daher schützen sie sich durch Mauern und kommen irgendwann mit Bulldozern. Die notdürftigen Unterkünfte werden samt ihren improvisierten Arbeitsplätzen niedergewalzt.
    Die Illusion der Unverwundbarkeit produziert unsägliche Ausschließungen. Aber wo eine Trabantenstadt zum Ort der Gewalt wird, statt sich zum Ort überraschender Geburten zu wandeln, da ist auch die Kernstadtin Gefahr. Beide Seiten verlieren. Herodes-Strategien sind kontraproduktiv. Sie verlagern Konflikte und verschärfen sie, statt eine Lösung anzugehen. Das Gewaltpotential steigt und kann jederzeit aktiviert werden. Dann genügt oft ein kleiner Anlass, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Darüber hinaus verliert die Kernstadt mit Herodes-Strategien ihre Chance, selbst an Kreativität zu gewinnen, indem sie sich mit der Erfindungskraft der Ankömmlinge verbindet.
    In die Konflikte um die Arrival Cities dieser Welt kann das Christentum seine weihnachtlichen Perspektiven einbringen. Sie weisen über den Tunnelblick hinaus, von dem die Kernstädte häufig gebannt sind. Denn von der Krippe an führt die Geschichte Jesu vor Augen, dass die Verwundbarkeit der Anderen, hier der Menschen, die migrieren, eine Aktivität braucht, die über den Selbstschutz vor Verwundung hinausgeht. Im Leben ist es unbestreitbar wichtig, sich zu schützen und die Gefahr der Verwundung niedrig zu halten. Niemand will verletzt werden und Schmerzen erleiden. Selbstschutz ist überlebenswichtig. Aber genauso wichtig ist die Frage, wo es notwendig ist, die eigene Verwundung zu riskieren. Auch diese Frage müssen sich die Kernstädte stellen. Bei Entscheidungen an der Grenze hat man es immer mit einer Doppelfrage zu tun:
Wo ist es notwendig, sich selbst vor Verwundung zu schützen?
Und wo ist Hingabe gefragt, die das Wagnis der Verwundbarkeit eingeht?
    Kernstädte gehen das Wagnis der Verwundbarkeit ein, wenn sie Brücken bauen in die Trabantenstädte hinein. Sie tun dies aus gutem Grund, denn als »Alteingesessene« können sie die Kreativität, die die Arrival Cities subversiv verkörpern, gut brauchen. Wenn sich die Kernstädte nur unverwundbar machen wollen und sich abschotten, versiegt ihre eigene Kreativität. Sie verlieren unmerklich ihre Zukunft. Wo sie dagegen ihre Herodes-Strategien überwinden und Brücken bauen, die Austausch ermöglichen, da transformieren sich die Kernstädte selbst in Orte der Geburt. Solche
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