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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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ehe sie sich als Abendkleid eine mit Goldfransen besetzte rote Satinrobe gönnte, obwohl sie das seit vielen Jahren ersehnt hatte. Dieses Kleid ließ sie, wenn sie es trug, wie eine Frau von dreißig erscheinen. Seltsamerweise aber zeigte sie trotz ihrer Vorliebe für ausgefallene Kleider keine Spur von Koketterie, und wenn sie die Gewänder anzog, richtete sich ihre Sorge darauf, ob ihre Kleidung und nicht sie selbst gut aussehen würde. Über diesen Punkt gibt die Geschichte keine Auskunft, doch ist die Annahme berechtigt, daß sie das eben erwähnte prunkvolle Gewand bei einer kleinen Gesellschaft trug, die ihre Tante, Mrs. Almond, gab. Das Mädchen war damals in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr, und Mrs. Almonds Gesellschaft war der Auftakt zu etwas sehr Bedeutsamem.
    Etwa drei oder vier Jahre zuvor hatte Dr. Sloper seine Hausgötter stadtaufwärts, wie man in New York sagt, umgesiedelt. Seit seiner Heirat hatte er stets ein rotes Backsteingebäude mit Granitsimsen und einem riesigen Fächerfenster über der Tür bewohnt, in einer Straße gelegen, die zu Fuß fünf Minuten von der City Hall entfernt war und (in gesellschaftlicher Beziehung) ihre besten Tage um 1820 gesehen hatte. Danach begann sich die modische Strömung stetig nordwärts zu richten, was sie in New York wegen der kanalartigen Enge, in der es verläuft, denn auch tun muß, und der gewaltig brausende Verkehr rollte rechts und links des Broadway weiter. Zu der Zeit, als der Doktor umzog, war das geschäftige Murmeln zu einem mächtigen Lärm angeschwollen, der Musik war in |25| den Ohren aller guten Bürger, die interessiert waren an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer glückbringenden Insel, wie sie es so gern nannten. Dr. Slopers Interesse an diesem Phänomen war lediglich indirekt – wiewohl es unmittelbarer hätte sein können, wenn man berücksichtigt, daß im Lauf der Jahre die Hälfte seiner Patienten zu überarbeiteten Geschäftsleuten geworden war –, und als die meisten benachbarten Wohnhäuser (die gleichfalls mit Granitsimsen und riesigen Fächerfenstern geziert waren) in Kontore, Lagerhäuser und Schiffsagenturen umgewandelt oder anderweitig den Grundbedürfnissen des Handels dienstbar gemacht worden waren, da beschloß er, sich nach einer ruhigeren Wohnstätte umzusehen. Das Ideal an Ruhe und vornehmer Zurückgezogenheit war 1835 am Washington Square zu finden, wo sich der Doktor ein stattliches, neuzeitliches Haus baute mit weit ausladender Fassade, einem großen Balkon vor den Fenstern des Salons und einer Flucht weißer Marmorstufen, die zu einem gleichfalls mit weißem Marmor eingefaßten Portal emporführten. Dieses Gebäude und viele seiner Nachbarn, denen es genau glich, hielt man vor vierzig Jahren für die Verkörperung der neuesten Errungenschaften architektonischer Technik, und sie sind bis zum heutigen Tag sehr solide und ehrenwerte Wohnstätten geblieben. Vor ihnen lag der Platz, der in beträchtlichem Umfang unansehnliche Bepflanzung aufwies, die von einer hölzernen Umzäunung umgeben war, was seinen ländlichen und leutseligen Eindruck noch erhöhte. Um die Ecke lag der erlauchtere Bereich der Fifth Avenue, die hier ihren Anfang nahm mit einer Atmosphäre von Weiträumigkeit und Selbstbewußtsein, die sie bereits als zu Höherem bestimmt kennzeichnete. Ich weiß nicht, ob es auf liebevolle frühere Erinnerungen |26| zurückgeht, aber jedenfalls erscheint diese Gegend von New York vielen Menschen als die reizvollste. Sie hat etwas von einer angestammten Stätte der Ruhe, wie sie sich sonst nicht häufig findet in andern Vierteln dieser langgestreckten, schrillen Stadt. Sie macht einen wohlhabenderen, reifer entwickelten, ehrwürdigeren Eindruck als irgendeine der stadtaufwärts liegenden Abzweigungen der längs verlaufenden Verkehrsader – den Eindruck, als habe sie so etwas wie eine gesellschaftliche Geschichte gehabt. Hier war es, wie du aus guter Quelle erfahren haben mochtest, daß du in eine Welt gelangt warst, die vielfältige Quellen von Interessantem anbot. Hier war es, wo deine Großmutter in ehrwürdiger Abgelegenheit wohnte und eine Gastlichkeit übte, die sich ebenso der kindlichen Phantasie wie dem kindlichen Gaumen empfahl. Hier hattest du deine ersten Spaziergänge unternommen, warst dem Kindermädchen mit ungelenkem Gang gefolgt und hattest den fremdartigen Duft der Götterbäume geschnuppert, die damals dem Platz im wesentlichen seinen Schatten spendeten und ein Aroma verströmten, demgegenüber
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