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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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Tatsächlich war er in New York vollkommen fremd. Es war zwar sein Geburtsort, aber er war seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Er hatte sich in der Welt herumgetrieben und in weit entfernten Ländern gelebt; erst vor ein, zwei Monaten war er zurückgekehrt. New York war sehr angenehm, nur fühlte er sich einsam.
    »Sehen Sie, die Leute vergessen einen«, sagte er und lächelte Catherine mit seinem bezaubernden Blick an, während er sich schräg vorwärts neigte und sich ihr zuwandte, die Ellbogen auf seine Knie gestützt.
    Catherine schien es, daß ihn keiner, der ihn einmal gesehen hatte, jemals wieder vergessen könnte. Aber obgleich ihr dieser Gedanke kam, behielt sie ihn doch für sich, wie man etwas Kostbares bewahrt.
    So blieben sie eine geraume Zeit sitzen. Er war sehr unterhaltsam und fragte sie nach den Leuten, die in ihrer Nähe standen. Als er versuchte zu erraten, wer einige von ihnen seien, geriet er dabei in die komischsten Irrtümer. Er kritisierte die Leute sehr freimütig in einer selbstbewußten, spontanen Art. Catherine hatte noch niemals jemanden – und schon gleich nicht einen jungen Mann – so reden hören. In dieser Art mochte vielleicht ein junger Mann in einem Roman sprechen |33| oder, noch besser, in einem Schauspiel, auf der Bühne, unmittelbar an der Rampe, den Blick zum Publikum gewandt und den Blick aller auf sich gerichtet, so daß man über seine Geistesgegenwart staunte. Und doch war Mr. Townsend nicht wie ein Schauspieler; er wirkte so echt, so natürlich. Das war äußerst interessant. Aber mitten hinein platzte Marian Almond, die sich durch die Menge drängte mit einem kleinen ironischen Ausruf, als sie die jungen Leute noch immer zusammen fand, was jedermann veranlaßte, sich umzudrehen und Catherine ein merkliches Erröten kostete. Marian unterbrach ihr Geplauder und bestellte Mr. Townsend – den sie behandelte, als wäre sie bereits verheiratet und er ihr Vetter geworden –, er möge eiligst zu ihrer Mutter kommen, die ihn schon seit einer halben Stunde Mr. Almond vorstellen wolle.
    »Wir sehen uns wieder«, sagte er zu Catherine, als er sie verließ, und Catherine fand diese Wendung sehr originell.
    Ihre Kusine nahm sie beim Arm und spazierte mit ihr umher. »Ich brauche dich nicht zu fragen, was du von Morris hältst«, rief das junge Mädchen.
    »Ist das sein Name?«
    »Ich habe dich nicht gefragt, was du von seinem Namen hältst, sondern was du von ihm selber hältst«, sagte Marian.
    »Ach, nichts Besonderes«, antwortete Catherine, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben verstellte.
    »Ich habe gute Lust, ihm das zu sagen!« rief Marian. »Das würde ihm guttun; er ist so schrecklich eingebildet.«
    »Eingebildet?« sagte Catherine und starrte sie an.
    »Das sagt Arthur, und Arthur kennt ihn gut.«
    |34| »Oh, sag’s ihm nicht!« murmelte Catherine flehend.
    »Ich soll ihm nicht sagen, daß er eingebildet ist! Ich habe ihm das schon ein dutzendmal gesagt.«
    Auf diese unverhohlene Äußerung von Dreistigkeit hin sah Catherine verblüfft auf ihre kleine Gefährtin herab. Sie glaubte, Marian nehme sich so viel heraus, weil sie im Begriff stand zu heiraten; aber sie fragte sich auch, ob von ihr selbst, wenn sie einmal verlobt sein würde, solche kühnen Taten zu erwarten wären.
    Eine halbe Stunde später sah sie ihre Tante Penniman in einer Fensternische sitzen, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und ihre goldene Lorgnette an die Augen erhoben, die über den Raum hinwanderten. Vor ihr stand ein Herr, ein wenig vorgeneigt, der Catherine den Rücken zukehrte. Sie erkannte seinen Rücken augenblicklich, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte; denn als er, auf Marians Betreiben hin, von ihr weggegangen war, hatte er sich formvollendet zurückgezogen, ohne sich umzudrehen. Morris Townsend – der Name war ihr bereits so wohlvertraut, als hätte ihn ihr jemand seit der letzten halben Stunde immer wieder ins Ohr gesagt – Morris Townsend gab ihrer Tante seine Eindrücke von der Gesellschaft zum besten, so wie er es ihr gegenüber getan hatte. Er machte geistreiche Bemerkungen, und Mrs. Penniman lächelte dazu, als ob sie bei ihr Anklang fänden. Sowie Catherine das feststellte, entfernte sie sich. Sie wollte nicht gern, daß er sich umdrehe und sie sähe. Aber es machte ihr Vergnügen – das Ganze. Daß er sich mit Mrs. Penniman unterhielt, mit der sie zusammenwohnte und die sie jeden Tag sah und sprach, das schien ihn in ihrer Nähe zu halten und machte es ihr sogar
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