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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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leichter, sich seiner Betrachtung hinzugeben, als wenn sie selbst der Gegenstand seiner Höflichkeitsbezeigungen |35| gewesen wäre; und daß Tante Lavinia etwas für ihn übrig zu haben schien, daß er sie mit dem, was er sagte, nicht entrüstete oder befremdete, auch das sah das Mädchen als persönlichen Vorteil an; denn Tante Lavinias Anforderungen waren überaus hoch, da sie auf dem Grab ihres verstorbenen Gatten gründeten, das, wovon sie jedermann überzeugt hatte, das reinste Genie der Sprechkunst barg. Einer der Almondbuben, wie Catherine sie nannte, forderte unsere Heldin zu einer Quadrille auf, und mindestens eine Viertelstunde lang waren ihre Füße mit Beschlag belegt. Diesmal wurde ihr nicht schwindlig; ihr Kopf war völlig klar. Eben als der Tanz vorüber war, fand sie sich im Gewimmel ihrem Vater unmittelbar gegenüber. Dr. Sloper hatte gewöhnlich ein leichtes Lächeln, niemals ein sehr stark ausgeprägtes, und mit diesem leichten Lächeln, das in seinen klaren Augen und um seinen bartlosen Mund spielte, blickte er auf die karmesinrote Robe seiner Tochter.
    »Ist denn das die Möglichkeit, daß diese prunkvolle Erscheinung mein Kind ist?« sagte er.
    Er wäre verwundert gewesen, wenn man es ihm gesagt hätte, aber es ist eine unleugbare Tatsache, daß er seine Tochter fast nie anders als in ironischem Ton anredete. Sie freute sich immer, wenn er mit ihr sprach. Aber sie mußte sich ihre Freude sozusagen aus den Stoffballen herausschneiden. Es blieben Stücke übrig, kleine Reste und Schnipsel von Ironie, mit denen sie niemals etwas anfangen konnte, die für ihren eigenen Gebrauch zu delikat schienen; und doch fühlte Catherine, die zutiefst die Grenzen ihres Begriffsvermögens bedauerte, daß diese Reste zu kostbar waren zum Wegwerfen, und sie war überzeugt, daß sie, auch wenn sie über ihren Verstand |36| gingen, doch ein Beitrag zur Gesamtsumme menschlicher Weisheit seien.
    »Ich bin nicht prunkvoll«, sagte sie sanft und wünschte, sie hätte ein anderes Kleid angezogen.
    »Du bist verschwenderisch, luxuriös, kostspielig«, erwiderte ihr Vater. »Du siehst aus, als hättest du achtzigtausend im Jahr.«
    »Nun, solange ich sie nicht habe …«, sagte Catherine unlogischerweise. Ihre Vorstellung von ihrem voraussichtlichen Reichtum war noch recht unklar.
    »Solange du sie nicht hast, solltest du nicht aussehen, als ob du sie hättest. Hast du dich heute abend gut unterhalten?«
    Catherine zögerte einen Augenblick und murmelte dann, während sie wegsah: »Ich bin ziemlich müde.« Ich habe gesagt, daß dieser Abend der Beginn von etwas sehr Bedeutungsvollem für Catherine war. Zum zweiten Mal in ihrem Leben gab sie eine indirekte Antwort. Und der Beginn einer Phase der Verstellung ist gewiß ein bedeutsamer Zeitpunkt. Catherine wurde keineswegs so leicht müde.
    Nichtsdestoweniger war sie auf der Heimfahrt im Wagen so still, als ob sie von Müdigkeit überwältigt wäre. Dr. Slopers Art, mit seiner Schwester Lavinia zu sprechen, zeigte große Ähnlichkeit mit dem Ton, den er Catherine gegenüber angeschlagen hatte.
    »Wer war denn der junge Mann, der dir den Hof gemacht hat?« fragte er unvermittelt.
    »Oh, mein gütiger Bruder!« murmelte Mrs. Penniman abwehrend.
    »Er schien ungewöhnlich liebevoll. Immer wenn ich im Verlauf einer halben Stunde zu dir hinsah, hatte er die ergebenste Miene.«
    |37| »Die Ergebenheit hat nicht mir gegolten«, sagte Mrs. Penniman. »Sie galt Catherine; er sprach mit mir über sie.«
    Catherine war ganz Ohr gewesen. »Oh, Tante Penniman!« rief sie leise.
    »Er sieht sehr gut aus; er ist sehr klug; er drückt sich sehr – sehr geschickt aus«, fuhr ihre Tante fort.
    »Er ist also verliebt in dieses prachtvolle Geschöpf?« fragte der Doktor launig.
    »Oh, Vater!« rief das Mädchen noch leiser, zutiefst dankbar, daß es im Wagen dunkel war.
    »Das weiß ich nicht; aber er hat ihr Kleid bewundert.«
    Catherine sagte sich in der Dunkelheit nicht: »Nur mein Kleid?« Mrs. Pennimans Mitteilung traf sie durch ihre Fülle, nicht durch ihre Dürftigkeit.
    »Du siehst«, sagte ihr Vater, »er denkt, du hast achtzigtausend im Jahr.«
    »Ich glaube nicht, daß er an so etwas denkt«, sagte Mrs. Penniman. »Dazu ist er viel zu fein.«
    »Er muß ungeheuer fein sein, wenn er nicht an so etwas denkt!«
    »Das ist er durchaus!« entfuhr es Catherine ganz unabsichtlich.
    »Ich dachte, du seist eingeschlafen«, entgegnete ihr Vater. ›Die Stunde ist gekommen!‹ setzte er für
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