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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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war nicht außergewöhnlich unbegabt, und sie eignete sich genug Bildung an, um sich respektabel zu behaupten in der Konversation mit ihren Altersgenossen, unter denen sie allerdings, wie zugegeben werden muß, lediglich einen zweiten Platz einnahm. Bekanntlich ist es in New York für ein junges Mädchen möglich, einen ersten Platz einzunehmen. Catherine, die äußerst bescheiden war, hatte kein Verlangen zu glänzen, und bei den meisten gesellschaftlichen Ereignissen, wie man so sagt, führte sie ein Mauerblümchendasein. Sie liebte ihren Vater ungemein und fürchtete ihn sehr. Sie hielt ihn für den klügsten, stattlichsten und angesehensten Mann. Das arme Mädchen fand solchen Gewinn in der Hingabe an ihre Zuneigung, daß die kleine Regung von Scheu, die sich in ihre kindliche Neigung mischte, der Sache mehr eine Würze verlieh, als daß sie ihre Intensität minderte. Catherines größter Wunsch war, sein Gefallen zu finden, und ihre Vorstellung von Glück bestand in dem Bewußtsein, daß es ihr gelungen war, ihm zu gefallen. Über einen bestimmten Punkt hinaus war ihr das allerdings nie geglückt. Obwohl er, im ganzen gesehen, sehr gütig zu ihr war, wurde sie sich dessen völlig bewußt, und über den fraglichen Punkt hinauszugelangen schien ihr wirklich etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Was sie natürlich nicht wissen konnte, war, daß sie ihn enttäuschte, |19| obgleich sich der Doktor bei drei oder vier Gelegenheiten ziemlich unverhohlen darüber geäußert hatte. Catherine wuchs wohlbehütet und wohlhabend auf. Aber als sie achtzehn war, hatte Mrs. Penniman keine kluge Frau aus ihr gemacht. Dr. Sloper wäre gern auf seine Tochter stolz gewesen, aber es gab nichts bei der armen Catherine, worauf man hätte stolz sein können. Natürlich gab es auch nichts, worüber man sich hätte schämen müssen. Aber das war nicht genug für den Doktor, der ein stolzer Mann war und es nur zu gern gehabt hätte, seine Tochter für ein außergewöhnliches Mädchen halten zu können. Man hätte voraussetzen können, daß sie hübsch und reizvoll, intelligent und bemerkenswert würde, da ihre Mutter während ihrer kurzen Lebenszeit die bezauberndste Frau gewesen war, und was ihren Vater betraf, so kannte er selbstverständlich seinen Wert. Hin und wieder fühlte er Erbitterung bei dem Gedanken, ein Allerweltskind hervorgebracht zu haben, und er ging gelegentlich so weit, eine gewisse Genugtuung in der Vorstellung zu finden, daß seine Frau diese Erfahrung nicht mehr hatte erleben müssen. Diese Entdeckung kam ihm natürlich nur ganz allmählich, und erst als Catherine zu einer jungen Dame herangewachsen war, sah er die Sache als entschieden an. Er neigte dazu, zahlreiche Zweifel zu ihren Gunsten auszulegen; es eilte ihm nicht damit, zu einer Entscheidung zu kommen. Mrs. Penniman versicherte ihm häufig, daß seine Tochter ein reizendes Wesen habe, aber er wußte, wie diese Versicherung aufzufassen war. Sie besagte für ihn, daß Catherine nicht verständig genug war, um zu bemerken, daß ihre Tante eine Gans war; eine geistige Beschränktheit, die Mrs. Penniman nur angenehm sein konnte. Sowohl sie als auch ihr Bruder übertrieben in ihrer Meinung |20| indes die Beschränktheit des jungen Mädchens; denn obwohl Catherine ihre Tante sehr gern hatte und sich der Dankbarkeit bewußt war, die sie ihr schuldete, hatte sie doch Mrs. Penniman gegenüber keine Spur jener sanften Scheu, die ihrer Bewunderung für ihren Vater das Gepräge gab. Ihrer Meinung nach hatte Mrs. Penniman nichts von diesem Unermeßlichen an sich. Catherine durchschaute sie gleich auf einmal völlig und wurde nicht geblendet von ihrer Erscheinung, während die großen Fähigkeiten ihres Vaters in ihrem weitreichenden Umfang sich in einer Art leuchtender Verschwommenheit zu verlieren schienen, die erkennen ließ, daß sie nicht dort aufhörten, sondern daß Catherines geistiges Vermögen ihnen nicht mehr folgen konnte.
    Man darf nicht glauben, daß Dr. Sloper seine Enttäuschung an dem armen Mädchen ausließ oder ihr jemals Anlaß zu dem Verdacht gab, sie habe ihm übel mitgespielt. Im Gegenteil, aus Angst, ihr gegenüber ungerecht zu sein, erfüllte er seine Schuldigkeit mit mustergültigem Eifer und erkannte an, daß sie ein ergebenes und liebevolles Kind war. Außerdem war er ein Philosoph: er rauchte eine ganze Menge Zigarren über seiner Enttäuschung auf, und zur rechten Zeit gewöhnte er sich daran. Er war davon überzeugt, daß er nichts erwartet
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