Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
Vom Netzwerk:
das meines Vaters auf seinem Balkon im Pflegeheim erinnerte, und ich fragte mich, ob Kremer und mein Vater in einem ähnlichen Glücksmodus waren. Auch Kremer schien ganz leicht geworden zu sein, ohne Ballast, aber ich zweifelte daran, dass sein Zustand von Dauer war.
    «Manchmal», sagte er, «habe ich einen seltsamen Traum. Ich träume, dass mein Herz außerhalb meines Körpers schlägt. Ich kann es genau sehen, kann sehen, wie es pumpt und wie das Blut über durchsichtige Schläuche in den Körper fließt. Die Schläuche sind mit nichts fixiert, kein Pflaster oder Verband, sie verschwinden einfach so in der Brust, aber wenn man daran zieht, sitzen sie ganz fest. Das alles sieht nicht besonders schön aus, aber im Traum bin ich ganz ruhig. Ich sehe, dass mein Herz schlägt und dass alles in Ordnung ist, noch nicht einmal die Plastikschläuche beunruhigen mich.»
    Kremer sah mich an. «Haben Sie so etwas auch?»
    «Nein», erwiderte ich, «ich habe noch nie von meinem Herz geträumt.»
    Kremer schüttelte den Kopf. «Das meine ich nicht», sagte er und drückte sich vom Fensterbrett ab, «ich meine, ob Sie einen Traum haben, der Sie vollkommen beruhigt, der Ihnen alle Angst nimmt.»
    Obwohl ich nicht vorhatte, Kremer von meinen Träumen zu erzählen, dachte ich nach, aber mir fiel kein einziger Traum ein, kein beruhigender und auch kein beunruhigender. Doch, halt, gestern hatte ich geträumt, dass ich über eine Straße gehe, auf der als Mittelstreifen Blumen wachsen. Das war nicht schlecht, und ein bisschen hatte ich mich im Traum sogar über die Blumen gefreut, aber mehr war es beim besten Willen nicht gewesen.
    «Straßen», sagte ich schließlich, «ich träume manchmal von Straßen.»
    «Sie träumen von Straßen?», fragte Kremer ungläubig zurück.
    «Ja», sagte ich, «erst gestern. Ich bin meine Straße entlanggelaufen, und aus allen Fenstern hingen Menschen und winkten mir zu. Sie riefen meinen Namen, Epkes, immer wieder Epkes, und klatschten vor Freude, mich zu sehen, in die Hände.»
    Mein Gott, dachte ich, was für ein Unsinn. Das war kein Traum, das war eine Minderwertigkeitsphantasie. In Wahrheit kannte ich in meiner Straße nur Frau Karger aus dem Gemüseladen an der Ecke und den Tischtennisspieler von gegenüber, von dem ich noch nicht einmal den Namen wusste. Kremer aber war beglückt und begann meinen Traum bereits zu deuten, als die Tür aufging und die Stationsschwester hereinkam. Mit einiger Bestimmtheit wies sie mich auf das Ende meiner Besuchszeit hin, und ich war froh, dass Kremer so die Möglichkeit genommen war, weiter in meinem erfundenen Traum herumzustochern.
    Ich stand auf und folgte ihm aus dem Zimmer und weiter den Flur hinunter bis zum Fahrstuhl.
    «Kommen Sie wieder», sagte er, als ich bereits in der Aufzugskabine stand, «und passen Sie auf, dass Sie nicht unter die Räder kommen!»
    Ich wollte etwas erwidern, etwas wie «Was meinen Sie?» oder «Welche Räder?» oder einfach nur «Wieso?», aber mir fiel auf die Schnelle nichts ein. Ohnehin schloss sich im selben Moment die Tür, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Ich lehnte mich gegen die Wand der Kabine und blickte auf die durchlaufenden Ziffern der Stockwerksanzeige und durch sie hindurch auf die im Verborgenen vorbeirauschenden Wände des Aufzugsschachts. Erst die Bedienung, dann Kremer, was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Wie es schien, war ich ganzkörperlich seismographisch veranlagt, ohne dass ich die Zeichen selbst zu deuten vermochte. Im ersten Stock stieg eine junge Frau zu, und aus den Augenwinkeln glaubte ich zu erkennen, dass auch sie mich kritisch musterte.
    Kurz darauf spuckte mich der Fahrstuhl im Erdgeschoss aus, und ich beeilte mich, durch die Drehtür des Haupteingangs ins Freie zu kommen. Ich atmete einen Moment durch, dann lief ich zurück in die Stadt und betrank mich im Stieglitz . Das hatte ich schon lange nicht mehr getan, was auch dem Ober aufzufallen schien, der mit jedem Bier, das er mir zapfte, sorgenvoller dreinblickte. Ich kannte ihn von Thekengesprächen, die er zum Glück nie mit mir geführt hatte und in denen er stets den verständnisvollen Kummeronkel gegeben hatte. Immer wieder sah er zu mir herüber, und obwohl er auch an diesem Abend nicht mehr als das Nötigste mit mir sprach, herrschte ich ihn mit dem siebten oder achten Bier, das er mir brachte, an, er möge mich in Ruhe lassen und sich um seine eigenen Sorgen kümmern. Der Ober wirkte überrascht, überlegte kurz und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher