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Was Sie schon immer über 6 wissen wollten

Was Sie schon immer über 6 wissen wollten

Titel: Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Autoren: Holm Friebe
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Problem stand auch Gerhard Richter, Deutschlands bekanntester bildender Künstler, als er 2007 die Fenster des Kölner Doms neu gestaltete. Angelehnt an sein früheres Werk 4096 Farben wählte er dafür farbige Quadrate, die in zufälliger Anordnung einen abstrakten „Farbklangteppich“ ergeben sollten. Allerdings beschränkte Richter sich diesmal auf die 72 Farben, die schon für die mittelalterlichen Domfenster verwendet worden waren. Per Zufallsgenerator ließer 11.263 Farbquadrate anordnen. Anschließend griff Richter an Stellen ein, wo das Programm nicht zufällig, sondern intentional wirkende Muster und Häufungen einzelner Farben produziert hatte. So musste er eine Formation zerschlagen, die sich im unteren Bereich ergeben hatte und wie eine große 1 aussah. Eigentlich war es Richters erklärte Absicht, sich selbst eher zurückzunehmen, gleichzeitig wollte er die Fenster als etwas Selbstverständliches und Alltägliches erscheinen lassen. Dazu muss man dem Zufall dann doch etwas auf die Sprünge helfen.

    Was den Umgang mit zufälligen Zahlen zudem erschwert, ist die Tatsache, dass die Natur selbst sich nicht an ihre eigenen Regeln hält. Genauer gesagt – und trotzdem schwer zu begreifen: Sie hält sich nicht an den Grundsatz der Gleichverteilung. Nicht alle Ziffern kommen gleich häufig vor, zumindest sofern ihnen natürliche oder reale soziale Vorgänge zugrunde liegen. So beginnen Zahlen aus großen empirischen Datensätzen – etwa die Einwohnerzahlen von Städten, Geldbeträge in der Buchhaltung, die Länge von Flussläufen oder Naturkonstanten – sehr viel häufiger mit einer 1 als mit einer anderen Ziffer. Die mathematische Wahrheit ist, dass nicht die Daten aus der Natur selbst, wohl aber die Mantissen der Logarithmen dieser Daten einer Gleichverteilung folgen, doch das ist ein weites Feld. Man kann dies ein wenig plausibilisieren, indem man sich vergegenwärtigt, dass ein x-beliebiger Wert, um von 10 auf 20 zu wachsen, um 100 Prozent zunehmen muss, es im Bereich zwischen 80 und 90 jedoch nur 12,5 Prozent sind, obwohl der absolute Zuwachs derselbe bleibt. Deshalb verharren Werte länger in einem niedrigen Spektrum. Viele Wachstumsprozesse brechen auch einfach nach der ersten, zweiten oder dritten Stufe ab.
    Der Mathematiker Simon Newcomb hat 1881 als Erster auf dieses Phänomen hingewiesen. Ihm war aufgefallen, dass in Büchern mit Logarithmentafeln die Seiten, auf denen in den Tabellen die 1 die erste Ziffer ist, deutlich schmutziger waren als die anderen, weil sie häufiger angefasst wurden. Der Physiker Frank Benford hat diese Beobachtung 1938 aufgegriffen und ausgehend von einer Vielzahl an Beispielen systematisiert. Vereinfacht formuliert besagt das Benfordsche Gesetz: Je niedriger die Anfangsziffer, desto häufiger tritt sie auf. So ist die 1 mit einer Wahrscheinlichkeit von 30,1 Prozent die häufigste Anfangsziffer, während die 9 nur in 4,6 Prozent der Fälle vorne steht.
    Das Benfordsche Gesetz wird heute beispielsweise dazu benutzt, Manipulationen an Daten aufzudecken, sei es im Rechnungswesen, in wissenschaftlichen Studien oder bei Wahlergebnissen. Den Manipulatoren gelingt es in der Regel nicht, die zufällige, aber ungleiche Verteilung der Anfangsziffern beizubehalten und so das statistische Rauschen in der richtigen Zusammensetzung zu simulieren. So konnten die Behörden mithilfe des Benfordschen Gesetzes den fantasievollen Manipulationen in der Buchhaltung der US-Konzerne Enron und Worldcom auf die Schliche kommen, was in beiden Fällen den Konkurs nach sich zog.
    So mysteriös Benfords Gesetz erscheinen mag, ist es nichts anderes als der zahlenmäßige Widerschein der Tatsache, dass natürliche und soziale Systeme keine mathematisch homogene Gleichverteilung produzieren. Viele natürlichen Wachstumsprozesse produzieren Verteilungen, die um einen Mittelwert herum zu beiden Seiten abflachen: die berühmte Glockenkurve, die Carl Friedrich Gauß mathematisch beschrieben hat. In den USA ist diese „bell curve“ hochgradig ideologisch aufgeladen, weil ein gleichnamiges Buch aus den 1990ern behauptete, auch die menschliche Intelligenz sei nach der Gaußschen Formel logarithmisch normalverteilt – was impliziert, dass allepädagogischen Versuche, für mehr Bildungsgleichheit zu sorgen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind. Auch wenn die Glockenkurve in diesem Fall zu Recht als Instrument einer Ideologie entlarvt wird – in vielen anderen Bereichen, etwa bei der Körpergröße
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