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Was sie nicht weiss

Was sie nicht weiss

Titel: Was sie nicht weiss
Autoren: Simone van Der Vlugt
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einander an. Seine Züge sind von Kummer und Sorgen gezeichnet, an den Brauen und Wimpern hängen feine Wassertröpfchen.
    »Sie haben versprochen wegzubleiben«, sagt er heiser.
    »Tun Sie’s nicht! Bitte! Ich helfe Ihnen! Was auch immer Ihr Problem ist, es gibt für alles eine Lösung!« Regelrecht flehend klingt ihre Stimme.
    »Nein. Und das wissen Sie so gut wie ich: Für manche Probleme gibt es keine Lösung.«
    »Sie haben einen Sohn! Wie alt ist er? Jedenfalls zu jung zum Sterben und schon gar nicht auf diese Art! Denken Sie doch an Sem!«
    »Genau das tu ich. Deshalb ist er ja dabei. Ich hab ihm ein Schlafmittel gegeben, er wird kaum was mitbekommen.«
    Der Mann fasst die Hand des Kindes fester und richtet den Blick nach unten.
    »Wie heißen Sie überhaupt? Ich weiß nicht mal Ihren Namen …«, stammelt Lois.
    Er lächelt ihr flüchtig zu. »Ich heiße Richard.«
    Dann springt er.
    Lois wirft sich nach vorn, um ihn noch festzuhalten, greift aber ins Leere. Gleichzeitig bekommt Fred die Jacke des Jungen zu fassen. Einen Moment lang sieht es so aus, als würden beide in die Tiefe stürzen, doch Fred schafft es, das Kind zurückzureißen, und schließt es fest in die Arme.
    Wie betäubt steht Lois da. Sie weiß nicht, wie lange. Es ist ihr nicht gelungen, den Mann umzustimmen – dieser furcht bare Gedanke beherrscht sie so sehr, dass sie nicht aufhören kann zu zittern und am Rand des Dachs in die Knie geht. Erst als sie eine Hand auf der Schulter spürt und Stimmen hört, wird ihr bewusst, dass die anderen gekommen sind.
    Wie durch einen Schleier nimmt sie wahr, dass Sem von ihrer Kollegin Claudien Harskamp weggeführt wird. Fred blickt den beiden nach, mit hängenden Schultern und die Arme schlaff am Körper baumelnd, so als wäre alle Kraft aus ihm gewichen.

2
    »Dass ausgerechnet wir gerade da sein mussten! Auf der Polizeiakademie hat man uns alles Mögliche beigebracht, und bei den Einsätzen hab ich auch schon genug erlebt, aber so was …«, sagt Lois. »Ich hab wirklich versucht, mit dem Mann zu reden, und trotzdem ist er gesprungen!« Niedergeschlagen fährt sie sich durch das halblange blonde Haar und stützt dann mit einem Seufzer den Ellbogen auf die Theke.
    Sie sitzen in einer gemütlichen Kneipe am Alkmaarer Waagplein. Hier sind sie des Öfteren, wenn nach der Arbeit noch etwas zu besprechen ist.
    »Kein Mensch wirft dir etwas vor. Du hast getan, was du konntest. Wir beide haben getan, was wir konnten. Der Mann war nun mal fest entschlossen.« Fred trinkt einen Schluck Bier.
    »Du hast wenigstens den Jungen gerettet, aber ich? Der Mann ist gesprungen! Vor meinen Augen!«
    »Nur weil du mit ihm gesprochen hast, bin ich an das Kind rangekommen.« Fred berührt sie tröstend an der Schulter. »Und wenn wir nicht so schnell da gewesen wären, hätte es mit Sicherheit zwei Tote gegeben. So konnten wir wenigstens den Jungen retten.«
    Lois schließt kurz die Augen. Was mag in einem Menschen vorgehen, denkt sie, der sich mit seinem Kind an der Hand aufs Dach eines Hochhauses stellt? Wie verzweifelt muss man sein, um darin den einzigen Ausweg zu sehen?
    Inzwischen ist bekannt, dass der sechsunddreißigjährige Richard Veenstra hohe Schulden hatte. Er und seine Frau hatten vor drei Jahren ein Einfamilienhaus gekauft, waren wegen der Krise auf dem Immobilienmarkt ihre alte Woh nung aber nicht losgeworden. Die Schulden häuften sich an, und als dann auch noch Veenstras Frau an Krebs starb, verlor er jeden Lebensmut. Er hatte seinen Sohn mit einem Schlafmittel betäubt und ihm gesagt, sie würden zur Mama gehen.
    Nun ist der Mann tot, und der achtjährige Junge hat innerhalb kurzer Zeit beide Eltern verloren. Wenigstens ist er bei Verwandten untergekommen, wie Lois von Claudien gehört hat.
    Das war’s dann, zurück zur Tagesordnung – Fred und sie sind derzeit mit einer Serie von Raubüberfällen in Alkmaar und Umgebung beschäftigt. Aber sie weiß schon jetzt, dass sie sich nur mit größter Mühe auf die Ermittlungsarbeit und die Dienstbesprechungen wird konzentrieren können. Es wird lange dauern, bis die entsetzlichen Bilder, die sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt haben, verblassen. Nicht nur, wie der Mann sprang. Auch wie sie ihn dann unten in seinem Blut liegen sah, schrecklich zugerichtet. Und wie der Junge, der glücklicherweise das Ganze gar nicht richtig mitbekam, durch Freds beherztes Eingreifen gerettet wurde.
    Im Laufe der Zeit – seit ein paar Jahren bei der Kriminalpolizei in Alkmaar,
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