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Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Titel: Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung
Autoren: Anke Richter
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kennen. Wahrscheinlich, weil sie mich nicht kennen.
    Als ich mich anfangs in der Innenstadt verlief und ratlos auf den Stadtplan guckte, hielt keine Minute später eine ältere Dame neben mir in ihrem noch älteren Morris Minor. Sie bot an, mich zu meinem Ziel zu fahren. Ich nahm das Angebot gerührt an, stieg ein und verfolgte dann fasziniert, wie sie fünfmal abbog, ohne einmal zu blinken. Vielleicht macht man das so bei einem hellblauen Modell, das Holzrahmen um die Rückfenster hat. Auf der Fahrt erfuhr ich alle Details der von ihr soeben besuchten Katzenschau und erweiterte mein Repertoire an neuseeländischen Redewendungen um die Klassiker »good as gold«, »no worries« und »she’ll be right«, was im Kern immer das Gleiche heißt: alles in Butter.
    »So lovely to meet you«, flötete meine Retterin beim Aussteigen und bot mir ein schokoladenüberzogenes Kaubonbon aus ihrer Handarbeitstasche an: »Have a pineapple lump, my dear!« Der Ananasklumpen kam von Herzen und hatte mindestens so viel Tradition wie die antiquierte Automarke, wenn auch hoffentlich nicht so viele Jahre auf dem Buckel. Das Bonbon offenbarte ein grelloranges Innenleben mit der Geschmacksnote Klostein Tropicana. Es klebte mir fast so lange im Backenzahn, wie mir die entzückende Fahrerin im Gedächtnis blieb. Wann immer ich seitdem eine Ankündigung für eine Katzenschau oder einen Morris Minor sehe, habe ich sofort einen süßlichen Chemiegeschmack auf der Zunge.
    An all die grenzenlose Freundlichkeit habe ich mich seltsamerweise viel schneller gewöhnt als an die Ineffizienz. Dabei hält sich beides auf sehr harmonische Weise die Waage. Als Faustregel im Fachhandel gilt: Je weniger Ahnung ein Verkäufer hat, desto herzlicher ist er bei dem Versuch, etwas vergeblich im Regal zu finden. Mangelndes Wissen wird prinzipiell mit einem netten Schwätzchen aufgewogen. Es scheint sich für die Läden zu rechnen.
    Lukas geht morgens vor der Arbeit wellenreiten. Wenn er früh in der Klinik fertig ist, dann kann er einfach gehen – undenkbar auf seiner Stelle in Kiel, wo Arbeit immer vor Freizeit kam. Er freut sich, dass er sich nicht an arroganten Chefärzten abarbeiten muss, dass die Medizinerhierarchie flach ist, dass keiner was auf Titel gibt und ihn jede Krankenschwester mit Vornamen anspricht.
    Zum ersten Mal glauben wir, dass es möglich ist, ein Familienleben mit weniger Stress und mehr Grün zu führen, ohne in einem »ländlichen Vorort mit günstiger Nahverkehrsanbindung« hinterm Jägerzaun eines Reihenendhauses zu versauern und uns vor dem Feierabendverkehr zu gruseln. Die Alternative zum Spießertum hieß bisher immer: große Stadt. Jetzt heißt sie: kleines Land. Am Wochenende sind wir in weniger als zwei Stunden in der Wildnis. Die Jungen rennen auf die Felsen von Castle Hill zu, die wie grob gehauene Götterstatuen über die Bergflanken schauen. Wir legen eine Gedenkminute für all die Nordeuropäer ein, die nachts um drei im Pfingststau stecken, um auf die Südseite der Alpen zu kommen.
    Klingt das alles zu schön, um wahr zu sein? Finde ich auch. Denn ich bin deutsch, ich bin kritisch, ich bin zweifelnd. Dagegen helfen keine Stadtrundfahrten im Morris Minor. Daher schleicht sich in die Euphorie immer öfter etwas ein. Es erwischt mich genau dann, wenn der Sonnenuntergang besonders hinreißend über den Port Hills glimmt und der Wein dazu nicht besser schmecken könnte. Wenn Jakob und Otto im Schulkonzert ihre Lieder auf Maori so lieblich singen, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Wenn Baxter und Lukas vom Rugbyspiel aus dem Stadion wiederkehren, mit rot-schwarzen Schals um die Hälse gewickelt, als ob sie Statisten in einem Werbespot für Tui-Bier wären. Es ist das halb leere statt des halb vollen Glases. Es ist die Angst, sich vielleicht doch falsch entschieden zu haben.
                
    Otto kramt ein Blatt Papier unter den Fußballschuhen aus seinem Rucksack hervor. Den Essenszettel für die Schule muss ich jede Woche für ihn ausfüllen. Immer noch im Angebot: ›Squizeed Orange Juice‹. Es stößt mir wieder auf und zuckt mir in den Fingern. Um ein Unwort namens ›squizeed‹ ignorieren zu können, fehlen mir wohl neuseeländische Gene. Bin ich eigentlich die Einzige, der das auffällt? Scheren sich die Lehrer nicht um korrekte Rechtschreibung? Und ist der Lunchzettel nicht streng genommen ein Druckwerk der Schule, so wie ein Zeugnisheft? Da steht ja am Jahresende auch nicht ›Scholl Report‹ statt ›School
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