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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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an einen schönen heißen Kaffee mit viel Zucker erfüllt mich mit gierigem Verlangen.
    Rausch Rausch Rausch. Was wäre das Leben ohne Rausch? Was bliebe dann noch, außer der schnöden Realität, dieser lähmenden Seuche, die alles beherrschen und sich überall breitmachen will, die sich ständig als einzig legitime Autorität aufspielt, einen überrollt und stranguliert, bis man ist wie alle anderen und einen langen, leisen Erstickungstod stirbt.
    Vielleicht hat Silvia ja Recht, und ich leide wirklich an Dopaminmangel.
    Vielleicht hat Flo Recht, und ich habe wirklich Bindungsangst.
    Vielleicht haben Holger und Yolanda Recht, und mein Ekel vor letzten Schlucken und Fünfeuroscheinen und Post-it-Zetteln und Glückskeksen ist total neurotisch.
    Und vielleicht hat meine Mutter Recht, und ich bin wirklich dafür, dagegen zu sein.
    Und wenn schon. Was immer die Quacksalber an Diagnosen anzubieten haben, mir soll’s recht sein.
    Wenigstens einen Nikotinkick kann ich mir hier und jetzt verschaffen. Ich zünde mir eine Zigarette an, nehme drei kräftige Züge, muss husten und zertrete die halb weggerauchte Kippe auf dem Boden. Ich stütze meine Ellbogen auf die Knie und lege das Gesicht in meine Hände. Meine Augen tränen vom Rauch und vom Licht.
    Es ist Samstagabend. Warum bin ich nicht bei meinen Freunden? Warum bin ich nicht bei Holger, bei Yolanda oder bei Verena? Was habe ich hier zu suchen? Was habe ich hier verloren? Ich muss hier weg. Aber wohin? Ich kann jetzt
nicht einfach gehen. Die Waffen strecken. Aufgeben. Judith so davonkommen lassen. Es muss etwas passieren.
    Sie ist anders. Anders als die anderen. Besser, schlauer, größer. Sie gehört hier nicht hin. Dieses Umfeld verdirbt sie. Man sollte ihr einen Gefallen tun und sie von hier entführen. Sie umtopfen. Irgendwohin, wo sie atmen und gedeihen kann. Sie hat nur Angst. Ich muss mit ihr reden. Sie muss mit mir reden.
    Wieso, verdammt nochmal, redet sie nicht mit mir?
    Und dann passiert etwas mit meinen Augen. Tatsächlich. Sie werden feucht. Nicht vom Rauch, nicht vom Licht. Eine salzige Flüssigkeit, ein verschwommener Blick, ein zitternder Ozean unter den Augenlidern.
    Warum muss ich denn jetzt heulen?
    Zum ersten Mal seit Jahren.
    Eine einsame Träne rollt schüchtern mein Gesicht herunter, zögerlich, als müsste sie sich in dieser neuen Umgebung erst mal orientieren. Für eine Sekunde bleibt sie an meinem Kiefer hängen und zerschellt dann auf dem versifften Boden des Klowagens.
    Wie gut sich das anfühlt! Weinen. Auch ein guter Rausch. Hatte ich schon fast vergessen. Etwas fühlen. Sich suhlen in einem warmen Bad aus Selbstmitleid, hemmungslos und frei.
    Â»Ist da jemand drin?«
    Es rüttelt an der Klinke. Bollert gegen die Tür.
    Â»HALLO? IST DA JEMAND DRIN?«
    Â»Da sitzt jemand, ich seh doch die Schuhe.«
    Â»Bestimmt beim Scheißen eingepennt.«
    So unvermittelt, wie es angefangen hat, so schnell ist es auch wieder vorbei. Ich quetsche noch zwei bis drei Tränen hinterher, dann muss die schöne Traurigkeit wieder dieser unbändigen Wut weichen, diesem irren Biest, das in mir
tobt, ein autarkes Wesen mit großem Hunger, unersättlich, nicht zu bändigen. Ich fühle mich auf einmal wahnsinnig bescheuert, heulend in dieser Klowagenkabine mit zwei nervenden Typen vor der Tür.
    Mit dem Ärmel meines Hemdes wische ich mein Gesicht trocken, ziehe die Nase hoch wie meine Mutter in ihren schlimmsten Zeiten und spucke den Rotz auf das Geschmiere des Idioten, der ein Problem mit Corinna S. hat. Als ich aus der Kabine trete, ist da nichts Schönes mehr, nur noch zwei Siebzehnjährige, die mich doof anstarren, und dieses unbändige Verlangen nach mehr mehr mehr.

    Â»Sexy, was hast du bloß aus diesem Mann gemacht …«
    Der Sänger sieht jetzt, wo er diesen Evergreen deutscher Sexrockkultur darbietet, tatsächlich ein wenig aus wie Marius Müller-Westernhagen. Sein Kopf scheint nur noch aus Stirn zu bestehen. Er schwitzt stark und greift sich frivol in den Schritt.
    Â»Sexy, was hat der alte Mann dir denn getan …«
    Auch unter den Armen seiner Bandkollegen haben sich dunkle Ränder auf den roséfarbenen Hemden gebildet. Es sind mindestens tausend Grad im Zelt. Klebrige Luft, schwer wie Mayonnaise. Alkohol, Schweiß und ein übler Mix aus verschiedenen Parfüms, letztes Jahr zu Weihnachten bekommen von
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