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Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Titel: Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
Autoren: Norbert Hoerster
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in keinerWeise widerlegt. Es ist lediglich gezeigt, dass diese Aussage durch die beiden zur Begründung angeführten Aussagen – die Prämissen des Arguments – nicht schlüssig begründet werden kann: Dass die beiden Aussagen wahr sind, ist sowohl mit der Falschheit als auch mit der Wahrheit der zu begründenden Aussage völlig vereinbar.
    Besonders bemerkenswert an allen sechs Aussagen der
Argumente 10
und
11
ist, dass sie ein hohes Maß an Unbestimmtheit aufweisen. Das wird deutlich, wenn wir uns fragen, was denn eigentlich die Prämisse 1 von
Argument 10
genau bedeutet. Ich denke hier nicht daran, dass die beiden Begriffe «Nazis» und «Antisemiten» zweifellos eine gewisse Vagheit besitzen. Ich meine vielmehr die Tatsache, dass der bestimmte Artikel «die», der ja in allen sechs Aussagen vorkommt, alles andere als präzise ist. Der Leser möge sich zunächst selbst einmal fragen, in welcher genauen Bedeutung er diesen Artikel in jeder der sechs Aussagen versteht.
    Könnte es sein, dass er das «die» in einigen der Aussagen im Sinn von «alle», in anderen aber lediglich im Sinn von «fast alle» oder sogar nur im Sinn von «die meisten» versteht? Jemand, der die Konklusion von
Argument 10
für wahr hält, wird das «die» in dieser Aussage wohl kaum im Sinn von «alle» oder «fast alle» verstehen wollen. Schließlich lebten jedenfalls zu Beginn des «Dritten Reiches» in Deutschland einige hunderttausend Menschen, die sowohl Deutsche als auch Juden waren, und die allermeisten
dieser
Menschen waren gewiss keine Antisemiten.
    Tatsächlich besitzt die Konklusion von
Argument 10
am ehesten irgendeine Plausibilität, wenn man das «die» lediglichim Sinn von «die meisten» versteht. Doch auch dieses Verständnis macht das
Argument 10
unter keinen Umständen gültig: Sogar unter der Voraussetzung, dass
alle
Nazis sowohl Antisemiten als auch Deutsche waren, folgt nämlich keineswegs, dass
die meisten
Deutschen Antisemiten waren. Mit der Wahrheit der Prämissen wäre es ja vollkommen vereinbar, dass die Nazis – und damit auch die Antisemiten – nur wenige Prozent der Deutschen ausmachten.
    Dass eine Spezialdisziplin wie die mathematische oder formale Logik nur einen Teil des logischen Denkens erfassen kann, dürften die letzten Argumente gut gezeigt haben. Denn bei der Entscheidung der Frage, wie wir Aussagen mit dem bestimmten Artikel – Aussagen, die im Alltag ja sehr häufig sind – überhaupt angemessen
verstehen
können und wie wir sie im konkreten Fall
genau
zu verstehen haben, hilft uns keine formale Logik weiter. Von diesem Verständnis hängt aber nicht selten die Schlüssigkeit der betreffenden Argumente ab. Wie wir sahen, erwiesen sich die obigen
Argumente 10
und
11
auch unabhängig vom genaueren Verständnis des Artikels «die» als ungültig. Es ist aber nicht schwer, sich Argumente auszudenken, bei denen dies anders ist.
    Argument 12.
    Prämisse 1: Die Deutschen waren Antisemiten.
    Prämisse 2: Paul war Deutscher.
    Konklusion: Paul war Antisemit.
    Dieses Argument ist, wie sofort einleuchtet, gültig, falls in der Prämisse 1 «die» als «alle» verstanden wird, und ungültig,falls «die» lediglich als «die meisten» verstanden wird: Selbst wenn Paul tatsächlich Antisemit war, so lässt sich dies nach dem zweiten Verständnis von «die» jedenfalls aus den Prämissen nicht ableiten. Dieses einfache Beispiel macht sehr deutlich, wie entscheidend für unser logisches Schließen das Verständnis des bestimmten Artikels sein kann. Und es gibt in unserer Sprache noch zahlreiche weitere Ausdrücke, die im Alltag ähnlich wichtig und gleichzeitig ähnlich unbestimmt sind. Ich überlasse es dem Leser, sich solche Ausdrücke auszudenken.
    Vielleicht wird mancher Leser meinen, dass man das obige Argument nur ein wenig abwandeln müsse, damit es selbst bei dem zweiten genannten Verständnis von «die» gültig wird. Man müsse zu diesem Zweck nur die Konklusion etwas abschwächen.
    Argument 13.
    Prämisse 1: Die meisten Deutschen waren Antisemiten.
    Prämisse 2: Paul war Deutscher.
    Konklusion: Paul war wahrscheinlich Antisemit.
    Wir wollen annehmen, dass die beiden Prämissen wahr sind. Folgt daraus dann nicht notwendig die Konklusion? Ist das Argument dann also nicht auch gültig? Wenn die meisten Flugzeuge nicht abstürzen, muss ich dann nicht annehmen, dass auch das Flugzeug, das ich morgen nach Mallorca gebucht habe, zumindest
wahrscheinlich
nicht abstürzt? Das scheint der Fall zu sein.
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