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Was ich dir noch sagen will

Was ich dir noch sagen will

Titel: Was ich dir noch sagen will
Autoren: Sofie Cramer
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ersten Flugzeug gesessen hätten …?
    Lisa gruselte bei der Vorstellung, jemals wieder sicheren Boden verlassen zu müssen. Sie fragte sich, ob dieses bedrohliche Gefühl, das sich einstellte, wann immer sie in den Himmel blickte, jemals wieder verschwinden würde.
    Es lässt sich schwer beschreiben, dachte sie, und nicht einmal Erik kann mir folgen, wenn ich versuche, diese Empfindung in Worte zu fassen. Obwohl auch er dieses Ereignis nicht einfach verdrängen konnte, das wusste Lisa. Denn Erik legte seitdem eine für ihn ungewöhnliche Unruhe an den Tag, wirkte abwesend und häufig gereizt.
    Lisa dagegen spürte eine Lethargie und Gedämpftheit in sich. Und sie hatte nicht das Gefühl, Erik könne nachempfinden, was in ihr vorging. Schon mehrere Male hatte sie den Versuch unternommen, mit ihm über dieses einschneidende Ereignis zu reden. Ein Ereignis, das genau genommen gar keines gewesen war. Schließlich waren sie dem Unglück heil entkommen. Aber vielleicht hatte es gerade deswegen eine so gewaltige Wirkung auf sie, weil es eben nicht stattgefunden hatte.
    Lisa blickte den Meisen hinterher, wie sie in den Ahornbaum flogen. Sie spürte eine seltsame Furcht, die sie bislang nur mit dem tiefen, dunklen Meer in Verbindung gebracht hatte. Obwohl sie das Wasser liebte, machte ihr die Vorstellung, allein auf offener See zurückzubleiben, nun noch mehr Angst. Es war wie ein wiederkehrender Albtraum. Und nun bereitete ihr auch der Himmel ein ähnliches Unbehagen wie die stumme Meeresoberfläche, deren Abgrund kilometerweit in unbekannte Tiefen reichte.
    «Was gibt’s da draußen zu sehen?»
    Lisa zuckte vor Schreck zusammen, als Erik plötzlich in der Tür stand.
    «Was machst du denn hier?», fragte sie irritiert.
    «Ich wohne hier», entgegnete Erik mit einem Schmunzeln und trat auf Lisa zu.
    Wie eigentlich jeden Abend kam er nach einem anstrengenden Tag in der Praxis gegen 20.30 Uhr von seinem anschließenden Triathlon-Training nach Hause. Normalerweise küsste er Lisa kurz auf die Lippen und ließ ihre Nasenspitzen aneinanderstupsen. Doch heute – wie auch an all den anderen Abenden der vergangenen vier Wochen – hielt er sie einen Moment lang einfach nur fest im Arm. Beide wussten, woran der andere gerade dachte, aber sie sprachen ihre Gefühle nicht aus. Vielmehr redeten sie nur indirekt über all die großen und kleinen Veränderungen, die der Schrecken über das Flugzeugunglück in ihnen ausgelöst hatte. Etwa die Unsicherheit, wie man Kollegen oder Nachbarn von dem Ereignis berichten sollte. Darüber, was geschehen oder eben nicht geschehen war. Oder von dem Unbehagen, ins Auto zu steigen, in der vollkommen irrationalen Befürchtung, das Schicksal werde doch noch zuschlagen. Es könne sie vielleicht nur ausgetrickst haben und würde schon noch dafür sorgen, dass sie beide vorzeitig durch ein Unglück aus dem Leben schieden.
    Vieles war seitdem anders. Zum Beispiel das traditionell ausgedehnte Frühstück am Wochenende, bei dem Lisa und Erik bislang immer scherzhaft um den Reiseteil ihrer Zeitung stritten. Lisa hatte einfach kein Interesse mehr daran, sich auszumalen, in welch exotische Länder sie noch reisen konnten. Sie stieß Erik nicht mehr in die Seite, um ihn trotz ihres mit Nutella-Brötchen vollgestopften Mundes darauf aufmerksam zu machen, wie günstig die Flüge nach Kanada oder Bali doch waren und welch schönes Hotel auf den Kapverden eröffnen würde.
    Erik dagegen hielt es meist gar nicht mehr lange am üppig gedeckten Tisch aus. Er trieb jetzt auch am Wochenende extrem viel Sport.
    Erik löste sich aus der Umarmung, nahm Lisas Kopf in seine starken Hände und atmete den wohltuenden Duft ihrer Haare ein.
    «Hallo», hauchte er liebevoll.
    «Na?», entgegnete Lisa leise. «Wie war dein Tag?» Sie ließ sich auf die dunkle Holzbank fallen, die ihre Küche so wunderbar wohnlich machte.
    «Okay, wie immer», antwortete Erik, und in seiner Stimme lag etwas ungewöhnlich Ernstes. «Wie gestern und vorgestern, wie morgen, übermorgen und überübermorgen.» Er setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des quadratischen Holztischs und rieb sich mit den Händen erst die Augen und dann das ganze Gesicht.
    «Du siehst ziemlich müde aus», sagte Lisa leise und wunderte sich selbst, wie mütterlich dieser Satz klang. Überhaupt kam es ihr so vor, als ob sie Erik in letzter Zeit schon fast erdrückte mit ihrer behütenden Art. Wenn er ins Auto stieg, sagte sie: «Fahr vorsichtig!» Wenn er
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