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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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vorgegangen war. Was ließ mich so reagieren? Ich war daran beteiligt zu töten und würde vielleicht selbst getötet werden. Ich fühlte mich für das Leben und den eventuellen Tod meiner Kameraden verantwortlich. Ich kämpfte mit einer Situation, die sich in ihrem Schrecken dem Heiligen und der Unendlichkeit annäherte, und dieser Mann versuchte mich zu betäuben. Ich brauchte andere Hilfe, um mit der existenziellen Angst vor dem eigenen Tod und der Verantwortung für den Tod anderer umgehen zu können, egal ob von Freund oder Feind. Ich brauchte einen spirituellen Führer und keinen Southern Comfort.
     
    Viele werden sagen, dass eine Schlacht auch nichts annähernd Spirituelles besitzt. Dazu gebe ich zu bedenken, dass eine mystische und eine religiöse Erfahrung vier gemeinsame Komponenten haben: sich ständig des eigenen, unvermeidlichen Todes bewusst zu sein, sich völlig auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, den Wert des Lebens fremder Menschen höher als den des eigenen einzuschätzen und Teil einer größeren religiösen Gemeinschaft zu sein, wie des Sangha, der Umma oder der christlichen Kirche. Alle vier Komponenten gehören auch zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Der große Unterschied besteht darin, dass ein Mystiker den Himmel sieht und ein Soldat die Hölle. Ob der Kampf nun die dunklere Seite derselben Münze ist oder nur ein Äquivalent der Intensität des Empfindens, kann ich nicht sagen. Was ich weiß, ist, dass ich mit fünfzehn Jahren eine mystische Erfahrung gemacht habe, die mich zu Tode erschreckt und, wie die Kriegssituation, mein Verhältnis zum gewöhnlichen Leben und zur Ewigkeit verändert hat.
    Die meisten von uns, mich eingeschlossen, würden sich unter einem geheiligten Ort lieber einen wundervollen, lichterfüllten Raum vorstellen, in dem sie sich wohlfühlen und einen Weg finden, ihre Seele für den Tod zu wappnen. Wir wollen nicht glauben, dass etwas Hässliches und Brutales wie der Krieg mit der Spiritualität des Lebens in Zusammenhang stehen könnte. Aber würde nicht auch jeder praktizierende Christ sagen, dass der Hügel Golgatha ein geheiligter Ort ist? Denken wir an die Dämonen des tibetanischen Buddhismus, an die rituellen Folterpraktiken einiger amerikanischer Indianerstämme, die dunkle Seite des Voodoo und das grausame Märtyrertum der Heiligen aller Religionen. Rituelle Folter und Märtyrertum können bedeutungslos und fürchterlich schmerzhaft, aber auch eine tiefe religiöse Erfahrung sein, je nachdem, wie der Leidende die Situation betrachtet. Der Schrecken bleibt der gleiche.
    Der kriegerische Kampf entspricht genau dieser Situation.
    Unsere jungen Soldaten wachsen womöglich in der einzigen Kultur auf diesem Planeten auf, die den Tod als Option betrachtet. Wenn man es so sieht, ist es gar nicht überraschend, dass nicht nur sie selbst, sondern auch viele ihrer vorgeblichen religiösen Führer (wie der Priester mit dem Schnaps) den Tempel des Mars unvorbereitet betreten. Ihr Trost ist nicht nur oft trügerisch, er macht die Menschen auch nicht selten taub für die spirituelle Wirklichkeit und Reife. Noch schlimmer sind die psychologischen und sozialen Folgen.
    Um diese Folgen zu vermeiden, oder sie zumindest abzumildern, müssen Soldaten in der Lage sein, eine Bedeutung in der chaotischen Erfahrung eines Gefechts zu sehen, das heißt, sie müssen die Situation auf einer tiefer gehenden Ebene verstehen als der von Kampf- und Tötungstechnik. Das kann ihnen helfen, den Krieg ohne zu große geistige Beschädigung durchzustehen und auch selbst nicht mehr Schaden anzurichten als nötig. Und es ist notwendig, damit sie sich nach ihrer Rückkehr zu Hause wieder ins Alltagsleben einfügen können. Dieses »Sicheinfügen« ist in etwa damit zu vergleichen, dem heiligen Johannes vom Kreuz nach Verlassen des Klosters zuzumuten, bei McDonald’s Hamburger zu braten. Zählt man die durch Drogen und Alkoholmissbrauch, aggressive Verkehrsunfälle, Gewalt und andere selbstzerstörerische Verhaltensweisen Gestorbenen zu den sogenannten »normalen« Selbstmorden hinzu, ist die Zahl der Veteranen, die sich nach ihrer Heimkehr aus einem Krieg zu Hause umbringen, beunruhigend hoch und wird dennoch weitgehend ignoriert.
    Besonnenheit und geistige Reife lassen sich niemandem aufzwingen. Blutjunge Soldaten wollen kämpfen, trinken, vögeln und über die Stränge schlagen. Dennoch kam man sie in Situationen bringen, in denen die geistige Reife schnell wächst, eine
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