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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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erfuhr, wie verletzlich wir waren. Nachts schlief niemand länger als eine Stunde am Stück, und wir stellten weit vorgelagerte Horchposten auf, bis tief in die südlichen Ausläufer und auf einen Hang, der so steil war, dass ich aufrecht stehend die Erde berühren konnte. Nach Norden hin fiel der Fels fünfhundert Meter steil in die Tiefe ab. Angesichts der Schwierigkeiten, in diesem Gelände schnell wieder zurück hinter die Linien unserer Stellung zu kommen, wussten wir alle, dass die Horchposten wahrscheinlich der Warnung des Rests von uns zum Opfer fallen würden.
    Eines Nachts versuchten dann kleine Trupps der NVA, an unseren Horchposten vorbeizukommen, um die Schwächen unserer Verteidigung und den Verlauf unserer Linien auszukundschaften. Einer der Trupps stolperte geradewegs in einen Horchposten hinein, und die drei Marines riefen nach Unterstützung durch die zwei 60 -mm-Mörser, die uns vom Kompanieführer dagelassen worden waren. Die zweite Salve reichte zu kurz und verwundete alle drei Kids des Horchpostens. Neun Marines und ein Navy-Sanitäter meldeten sich freiwillig, um sie zu holen, sechs, um sie zu tragen, vier, um zu kämpfen. Ich wartete beim Funkgerät, krank vor Angst, während der Rettungstrupp durch den finsteren Dschungel stolperte und die Verwundeten die verschlammten Wege hinaufschleppte. Einer der verwundeten Marines schrie fortwährend Obszönitäten heraus, bis sie ihn mit einer Socke knebelten. Als sie endlich sicher hinter den Linien waren, fand ich Gehirnspritzer in seinem Dschungelhut. Sollten wir das Glück haben, alle drei lebend evakuieren zu können, wusste ich, dass mindestens einer von ihnen nie wieder ein normales Leben würde führen können.
    Wir schafften es tatsächlich, sie aus der Kampfzone hinauszuschaffen, was dem Heldenmut einer Hubschrauberbesatzung der Marine Air Group  29 zu verdanken war, die bei völliger Finsternis durch die Berge flog, während wir sie über Funk nach dem Geräusch ihrer Maschinen und Rotoren dirigierten. Nur Meter von uns entfernt kamen sie plötzlich in Sicht und wären beinahe in uns hineingekracht. Unser Forward Air Controller, ein einfacher Soldat, den wir nur
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nannten, schrie in sein Mikro, dass sie direkt über uns seien. Wir hatten die Landezone oben auf dem Bergrücken mit entzündeten
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[1] auf unseren Helmen markiert. Die Zone war so klein, dass der CH - 47 nur mit den Hinterrädern darauf landen konnte, der vordere Teil des Vogels schwebte über dem Abgrund.
    Kaum dass der Hubschrauber wieder im Dunkel verschwunden war, schickten wir neue Horchposten aus, und am nächsten Morgen ging das Patrouillieren ohne Pause weiter, trotz des Nebels, der Feuchtigkeit durch den Monsun und unserer schrecklichen Übernächtigung. Ich hatte jedoch mit weit mehr als nur Schlafmangel zu kämpfen, denn ich war zum ersten und leider nicht zum letzten Mal mit dem Tod und der Verwundung einiger meiner Männer und dem damit einhergehenden schrecklichen Gefühl von Verantwortung und Schuld konfrontiert. Die Mörser standen, wie die ganze Stellung, unter meinem Kommando. Als ich sie am nächsten Morgen untersuchte, entdeckte ich bei einem Mörser einen leicht gelockerten Fuß, der mir bei meinen Routineinspektionen unserer Waffen hätte auffallen müssen. Wahrscheinlich war er bei der ersten Salve verrutscht, worauf die zweite etwas versetzt abgefeuert worden war. Im Gefecht kann schon eine kleine Unaufmerksamkeit Menschenleben fordern.
    Ein weiterer Hubschrauber kam nach der mutigen Evakuierungsaktion nicht mehr herein, der Monsun machte allen Flugverkehr in den Bergen unmöglich. Erst zwei Tage vor Weihnachten lichtete sich der Nebel so weit, dass wieder einer der Vögel bis zu uns durchfand. Es war eine riskante Unternehmung, er flog direkt unter den Wolken und nur ein paar Armlängen über den Wipfeln der dschungelbedeckten Bergrücken. Zusammen mit Verpflegung, Wasser, Post und Munition traf auch der Bataillonsgeistliche bei uns ein.
    Er brachte ein paar Flaschen Southern Comfort und die neuesten dreckigen Witze mit. Ich nahm die Flaschen dankend entgegen, lachte über die Witze und stieß mit ihm an. Frohe Weihnachten.
    Innerlich kochte ich. Ich fürchtete, kurz davorzustehen, den Verstand zu verlieren. Aber wie konnte ich wütend auf jemanden sein, der sein Leben aufs Spiel setzte, um mich aufzumuntern? Und tat der Southern Comfort auf unserem regengeplagten Bergrücken nicht gut? Erst Jahre später verstand ich, was da in mir
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