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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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entsprechende Anleitung vorausgesetzt. Man nennt das Initiation.
    Joseph Henderson, der 2007 im Alter von 104  Jahren starb, war einer der Vorreiter Jung’scher Analyse und ein in der ganzen Welt anerkannter Experte für Initiationen. Die erste Art Initiation bereitet den Menschen und die Gesellschaft, in der er lebt, darauf vor, eine Erwachsenenrolle zu erfüllen. Früher lernten die Jungen traditionell die Gefahr und Verantwortung der Jagd zu erkennen und anzunehmen, bei den Mädchen war es die Gefahr und Verantwortung der Geburt. Die zweite Art Initiation geht über die gesellschaftlichen Rollen hinaus und ist geistiger, spiritueller Natur. Dabei geht es um das Akzeptieren der eigenen Sterblichkeit, des Todes.
    Um zu reifen Individuen zu werden, müssen wir beide Erfahrungen machen, beide Initiationen erleben, wobei uns die Initiationsriten in unserer Kultur heute selbst überlassen bleiben. Manche durchlaufen sie, manche nicht. Viele Menschen in unserer Kultur werden nie erwachsen.
    Es gibt nicht länger einen einzigen, einfachen Initiationsritus der Art, wie wir ihn aus den Jäger-und-Sammler-Kulturen am besten kennen: das Hungern und die erschreckenden Träume bei der Visionssuche junger Indianer, der jungen Aborigines zugefügte Schmerz und die furchterregenden Töne der Schwirrhölzer, geheimer ritueller Instrumente, die die Nichtinitiierten keinesfalls hören dürfen, sonst drohte ihnen der Tod. In unserer Kultur durchlaufen die meisten Menschen eine ganze Reihe von Teilinitiationen, unbewusst und ohne Anleitung.
    Das Bootcamp, in dem wir unsere Grundausbildung bekamen, stellte eine Initiation der ersten, gesellschaftlichen Art dar. Ich fuhr mit dem Bus von der Port Authority in New York nach Quantico, Virginia, wurde mitten in einer stickigen Juninacht von schreienden Ausbildern empfangen und durch eine Unzahl von Versorgungshütten gejagt, um meine Ausrüstung einzusammeln, schwitzte in meinen Zivilklamotten, bekam mein Haar abrasiert und fiel am Ende völlig erschöpft ins Bett. Nach gefühlten fünf Minuten wurde ich von gleißendem Licht wieder aus dem Schlaf gerissen, ein Blechmülleimer wurde von einem tobenden Irren den Gang hinuntergetreten, Leute landeten auf dem klammen Fußboden, zusammen mit ihren dünnen Matratzen und allem, was sie sonst noch in ihren schmalen Betten hatten, und während wir verzweifelt in viel zu kurzer Zeit zu pinkeln, zu scheißen, uns zu rasieren und anzuziehen versuchten, waren wir von einem irre machenden Schreien und Fluchen umgeben.
    Ich überlebte die Schikanen und Drangsalierereien, das Exerzieren und Gedrilltwerden. Zu dem Vorfall, der mein Bewusstsein tatsächlich veränderte und mich auf meine gesellschaftliche Rolle als Marine statt auf die eines Highschool-Kids vorbereitete, kam es, weil ich während der Rede eines Ausbilders bei einer Nachtübung nach einer Mücke schlug. Daraufhin musste ich mich bis auf die Unterhose ausziehen und in einen nahen Sumpf marschieren, wo ich in Habachtstellung zu verharren hatte. Mein ungeschützter Körper war bald schon mit Mücken übersät.
    Der Ausbilder kam von Zeit zu Zeit vorbei, um nach mir zu sehen, und fragte, ob ich genug hätte. Ich rief das geforderte »Nein, Sir!«, damit ging er wieder. Nach einer halben Stunde setzten die Schmerzen ein. Nach einer Dreiviertelstunde war ich von roten Beulen übersät. Ich spürte Blut meinen Körper hinunterrinnen, spürte die Mücken in meiner Unterhose, wie sie mir in die Hoden stachen. Aber ich hatte beschlossen, diese Prüfung zu bestehen.
    Ich weiß noch, wie der Ausbilder zum vierten Mal vor mir stand, Auge in Auge mit mir, und in mich hineinsah. Dieses Mal fragte er nicht, ob ich genug hätte, und nach einer Weile kam es zu einer unmerklichen Veränderung in seinen Augen. Sein Kopf nickte ganz leicht, dann befahl er mir, mich wieder anzuziehen, und schrie mich an, weil ich so dumm gewesen wäre, mich nackt in einen mückenverseuchten Sumpf zu stellen.
    Von diesem Augenblick an wusste ich, dass mich dieser Furcht einflößende schwarze Mann in seiner Gruppe akzeptiert hatte, die er »mein Marine Corps« nannte. Und von diesem Augenblick an dachte ich anders über mich. Ich war stolz. Ich war ein Marine. Ich bin auch heute noch stolz darauf, ein Marine zu sein. Allerdings gab es etwas Entscheidendes, das diesem Übergangsritus fehlte: die Spiritualität. Ich war stolz darauf, dem Marine Corps anzugehören, ich war stolz darauf, ein Marine zu sein, doch es war noch ein
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