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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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dachte, sie hätte den Valiant wieder unter Kontrolle, als die Reifen wieder Bodenkontakt hatten, spürte sie einen sanften Ruck von rechts. Sie hatte einen weißen Geländewagen gestreift, und obwohl ihr Auto viel kleiner war, schien der SUV durch die Berührung ins Schleudern geraten zu sein, ein Elefant niedergestreckt durch ein Blasrohr. Sie erhaschte einen Blick auf ein Mädchen, oder glaubte es zumindest. Das Gesicht des Kindes wirkte eher überrascht als ängstlich, als könne es nicht fassen, dass man ihm etwas anhaben konnte. Das Mädchen trug eine Winterjacke und eine riesige, nicht gerade schmeichelhafte Brille, die mit den weißen Fellohrschützern noch unvorteilhafter aussah. Ihr Mund stand
offen, ein rotes Tor des Staunens. Sie war zwölf oder elf; mit elf war damals auch – und dann schlitterte der weiße SUV langsam die Böschung hinab und überschlug sich mehrere Male.
    Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung , dachte sie. Sie wusste, sie hätte vom Gas gehen, anhalten, nach dem SUV sehen sollen, aber das Hupen und Bremsgequietsche hinter ihr trieb sie unwillkürlich voran. Ich konnte doch nichts dafür! Eigentlich sollte inzwischen jeder wissen, dass SUVs sich leicht überschlagen. Der leichte Schubser von ihr konnte nicht für diesen verheerenden Unfall verantwortlich gewesen sein. Abgesehen davon war es ein so langer Tag gewesen, und sie war schon so nah dran. Die nächste Ausfahrt wäre ihre gewesen, weniger als eine Meile entfernt. Sie konnte immer noch auf die I-70 abbiegen und weiter nach Westen fahren.
    Als sie sich jedoch auf der langen Abbiegespur zur I-70 befand, fuhr sie plötzlich nicht nach links, sondern nach rechts, in die andere Richtung; geradewegs auf das Schild zu, auf dem ANLIEGER FREI stand. Ihre Familie hatte diesen seltsamen, unfertigen Autobahnanschluss immer nur die Straße ins Nirgendwo genannt. Alle hatten sich immer darüber gefreut, wenn sie jemandem den Weg zu ihnen nach Hause beschreiben konnten. »Fahr auf der Interstate nach Osten, bis sie aufhört.« »Wie kann eine Autobahn denn plötzlich aufhören?« Und ihr Vater erzählte daraufhin immer triumphierend die Geschichte der Bürgerinitiative, die sich in Baltimore zusammengeschlossen hatte, um den Leakin Park und seine Flora und Fauna zu retten und damit auch die damals bescheidenen Reihenhäuser um das Hafenbecken. Es war einer der wenigen Erfolge im Leben ihres Vaters, obwohl er dabei nur eine Randfigur gewesen war, nur einer von denen, die das Gesuch unterzeichnet, an den Demos teilgenommen hatten. Niemand hatte ihn jemals darum gebeten, bei den öffentlichen Versammlungen aufzutreten, auch wenn er es noch so gern getan hätte.
    Der Valiant machte ein Furcht erregendes Geräusch, vermutlich
das rechte Hinterrad, das am eingedellten Kotflügel schrammte. In ihrem erregten Zustand erschien es ihr folgerichtig, das Fahrzeug auf dem Seitenstreifen stehen zu lassen und zu Fuß weiterzugehen, obwohl inzwischen Schneeregen eingesetzt hatte und ihr mit jedem Schritt klarer wurde, dass etwas nicht stimmte. Ihre Rippen taten weh, jeder Atemzug kam ihr wie ein schmerzhafter Stich mit einem winzigen Messer vor. Außerdem fiel es ihr schwer, ihre Handtasche an sich zu pressen, so wie man es ihr beigebracht hatte, um keine leichte Beute für Räuber und Diebe zu sein. Sie war nicht angeschnallt gewesen und in dem Valiant herumgeschleudert worden, war ans Lenkrad und gegen die Tür geprallt. Sie blutete im Gesicht, aber sie wusste nicht genau, wo. Mund? Stirn? Ihr war heiß und kalt, und sie sah Sternchen. Nein, keine Sternchen, mehr wie Dreiecke, die herumwirbelten und herumtanzten, wie von Drähten eines unsichtbaren Mobiles.
    Sie war kaum zehn Minuten gegangen, als ein Streifenwagen mit Blaulicht neben ihr anhielt.
    »Gehört Ihnen der Valiant da hinten?«, rief ihr der Polizist zu, während er das Fenster auf der Beifahrerseite herunterkurbelte, aber keinerlei Anstalten machte, auszusteigen.
    War es ihrer? Die Frage war viel komplizierter, als der junge Beamte sich das vorstellen konnte. Sie nickte trotzdem.
    »Können Sie sich ausweisen?«
    »Klar«, antwortete sie und kramte in ihrer Handtasche, fand aber ihre Brieftasche nicht. Na so was! Sie fing an zu lachen, als ihr bewusst wurde, wie gut das passte. Selbstverständlich hatte sie keinen Ausweis dabei. Wie auch? »Tut mir leid. Nein. Ich …« Sie konnte nicht mehr aufhören zu lachen. »Sie ist weg.«
    Der Polizist stieg aus und wollte sich selbst davon überzeugen. Ihr
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