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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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der sie zu würdigen wusste, bei dem die volle Tragweite dessen, was sie ihm zu erzählen versuchte, ankommen würde. Sie fing bereits an, nach dem gewohnten Muster zu handeln. Wen hatte sie auf ihrer Seite, wer würde sich für sie einsetzen? Wer war gegen sie, wer würde sie verraten?
    Im St.-Agnes-Krankenhaus zog sie es vor, weiterhin zu schweigen, und beantwortete nur Fragen, die sich auf ihre Schmerzen bezogen. Ihre Verletzungen waren relativ geringfügig, eine Platzwunde an der Stirn, die mit vier kleinen Stichen genäht wurde, wobei man ihr versicherte, dass es keine sichtbare Narbe geben würde. Etwas in ihrem linken Unterarm war gezerrt und gebrochen. Im Moment reiche es aus, den Arm zu verbinden und zu stabilisieren, aber irgendwann müsse er wohl operiert werden, sagte man ihr. Der junge Streifenpolizist hatte anscheinend ihren Nachnamen mit Bethany angegeben, weil die Dame von der Rechnungsabteilung damit ankam, aber sie weigerte sich, noch einmal davon anzufangen, ganz egal, wie sehr sie sie löcherten. Unter normalen Umständen hätte man sie ärztlich versorgt und entlassen. Aber dies war alles andere als normal. Die Polizei stellte einen uniformierten Wachmann vor ihrer Tür ab und machte sie darauf aufmerksam, dass sie nicht einfach nach Hause konnte, selbst wenn das Krankenhaus da anderer Meinung sein sollte. »Vorschrift ist Vorschrift. Sie müssen uns sagen, wer Sie sind«, gab
ihr ein anderer Cop zu verstehen, einer von der Verkehrspolizei. »Wenn Sie nicht verletzt wären, würden Sie heute Nacht im Gefängnis bleiben müssen.« Sie sagte trotzdem nichts, auch wenn sie der Gedanke ans Gefängnis in Angst und Schrecken versetzte. Nicht frei entscheiden zu können, was man tun möchte, irgendwo festgehalten zu werden – nein, nie mehr. Der Doktor schrieb »Name unbekannt« in ihre Akte und fügte in Klammern »Bethany?« hinzu.
    Sie kannte das St. Agnes. Oder genauer gesagt, hatte es früher einmal gekannt. Immer wenn sie sich verletzte, fuhren sie dorthin. Und das war oft. Die tiefe Schnittwunde in der Wade, als sie das Glas mit den Glühwürmchen hatte fallen lassen. Eine infizierte Stelle von der Pockenimpfung, die aus Versehen eins mit der Fliegenklatsche abgekriegt hatte. Das aufgeschlagene, blutende Knie, als sie hingefallen und im Gestrüpp gelandet war. Das Schienbein, aufgekratzt an dem alten, rostigen Reifenventil, das aus dem riesigen LKW-Schlauch hervorschaute, den ihr Vater zur Hüpfburg umfunktioniert hatte. Zur Notaufnahme kam die ganze Familie mit, mehr unfreiwillig und auf Wunsch ihres Vaters – es war schrecklich für die Verletzten, langweilig für die, die mitgeschleppt wurden, aber danach gab es bei »Mr. G« Softeis für alle, sodass es sich am Ende doch noch lohnte.
    So hatte ich mir das Nachhausekommen nicht vorgestellt , dachte sie, im Dunkeln liegend, und überließ sich dem Selbstmitleid, ihrem alten Begleiter.
    Sie wollte tatsächlich wieder nach Hause, wurde ihr dabei bewusst, wenn auch nicht gerade heute. Irgendwann einmal, wenn sie es für richtig hielt, und nicht, weil es ihr von irgendwem vorgeschrieben wurde. Vor drei Tagen war ihr Leben, das sie so mühsam wieder auf die Reihe bekommen hatte, ohne Vorwarnung außer Kontrolle geraten, genauso wie der erbsengrüne Valiant. Dieses Auto – es war fast, als hätte sich ein Geist unter der Motorhaube befunden, der sie von Anfang an nach
Norden drängte, vorbei an den alten Erkennungszeichen, bis hin zur Ausfahrt zur I-70. Es wäre so einfach gewesen, nach Westen weiterzufahren, ihrem eigentlichen Ziel entgegen, unentdeckt zu bleiben. Doch es hatte nicht in ihrer Macht gestanden. Der Wagen war von sich aus nach rechts abgebogen und von alleine stehen geblieben. Der treue Valiant hatte sie fast den gesamten Weg nach Hause geführt und sie dazu gebracht, das zu tun, was das Richtige war. Deshalb war ihr der Nachname herausgerutscht. Oder aber es lag an der Kopfverletzung oder an den Ereignissen der letzten drei Tage oder an ihrer Angst um das kleine Mädchen in dem Geländewagen.
    Benebelt von den Schmerztabletten fantasierte sie den Morgen über, wie es wohl sein würde, ihren Namen auszusprechen, ihren richtigen Namen, seit Jahren zum ersten Mal. Die Antwort auf die Frage, bei der kaum ein Mensch zweimal überlegen musste: Wer sind Sie?
    Dann fiel ihr ein, was die zweite Frage sein würde.

Teil I
    MITTWOCH

Kapitel 2
    »Ist das dein Handy?«
    Die Frau mit dem verschlafenen Gesicht funkelte Kevin Infante böse an und
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