Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
wie ein begossener Pudel«, sagte die alte Schnapsdrossel. »Ehrlich, genau so! Wie ein begossener Pudel.«
    Sie zupfte an ihrer Stirnlocke, eine einzelne rotbraune Strähne, die an den Wurzeln drei Zentimeter Grau aufwies. Gloria Bustamante sah so chaotisch aus wie immer – ihr Lippenstift war über die natürlichen Ränder hinaus verschmiert, an ihrem Kostüm fehlte ein Knopf. Ihre Schuhe waren bestimmt einmal recht elegant gewesen, aber jetzt vorn abgestoßen, als ob sie immer wieder auf etwas sehr Hartes eingetreten hätte. Wahrscheinlich das Schienbein eines Detective.
    »Hat sie Sie beauftragt?«
    »Ich denke schon.«
    »Ja oder nein, Gloria. Sind Sie ihre Anwältin?«
    »Ich gehe erst mal davon aus, sofern sie mein Honorar zahlen kann.« Sie taxierte ihn. »Sie sind doch wegen des Mords hier, stimmt’s? Wohl kaum wegen des Unfalls.«

    »Es interessiert mich einen Scheißdreck, was sie mit ihrem Auto angestellt hat.«
    »Wenn sie mit Ihnen über den Mord spricht, können wir dann den Unfall vergessen? Niemand hatte Schuld, sie stand unter Schock …«
    »Verdammt, Gloria, für wen halten Sie mich eigentlich? Dafür braucht man die Einwilligung des Klägers. Das wissen Sie doch selbst am besten.«
    »Also gut, dann werde ich möglicherweise dafür sorgen, dass sie Ihnen heute Morgen nicht zur Verfügung steht. Sie ist erschöpft und hat eine Kopfverletzung. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mit der Polizei sprechen sollte, bevor ärztlich festgestellt wurde, wie sich die Verletzung auf ihr Gedächtnis auswirkt.«
    »Das haben sie gestern Abend schon untersucht.«
    »Sie ist ärztlich versorgt worden, und sie war beim Psychiater. Aber ich möchte, dass sich ein Spezialist um sie kümmert, jemand aus der Neurochirurgie. Sie erinnert sich vielleicht noch nicht einmal mehr an den Zusammenstoß. Womöglich ist ihr gar nicht bewusst, dass sie Fahrerflucht begangen hat.«
    »Sparen Sie sich den Quatsch für das Plädoyer, Gloria, und legen Sie die Karten auf den Tisch. Ich muss klären, ob der Fall in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.«
    »Aber hallo , der liegt ganz eindeutig in Ihrem Zuständigkeitsbereich, Detective.« Es klang beinahe unanständig; so redete Gloria immer mit Männern. Als Infante ihr zum ersten Mal begegnete, dachte er noch, der leicht provozierende Tonfall sollte vertuschen, dass sie in Wirklichkeit anders gepolt war. Aber Lenhardt hielt es für reine Ironie, eine ausgefeilte Technik, einem ständig das Wort im Mund herumzudrehen, eine Aufwärmübung für eine professionelle Rechtsverdreherin wie Gloria.
    »Kann ich dann mit ihr reden?«
    »Über den alten Fall, ja, aber nicht über den Unfall.«
    »Verdammt, Gloria, ich bin vom Morddezernat. Irgend so
ein Blechschaden auf der Autobahn interessiert mich nicht die Bohne. Es sei denn – sie hat es mit Absicht gemacht? Hat sie versucht, die Leute im anderen Auto umzubringen? Mannomann, vielleicht ist heute mein Glückstag, und ich schlage gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, einfach so.« Er schnippte mit den Fingern.
    Gloria schenkte ihm einen gelangweilten Blick. »Überlassen Sie den Humor Ihrem Sergeant, Kevin. Der ist der Witzbold. Sie sind der Hübsche.«
     
    Die Frau im Krankenbett drückte fest die Augen zu, wie ein Kind, das sich schlafend stellt. Das Licht im Zimmer fiel auf die feinen Härchen auf ihren Armen und auf die flaumige Pfirsichhaut ihres Gesichts. Die Augen lagen tief in den Höhlen und ließen auf dauerhafte Erschöpfung schließen. Sie hob einmal kurz die zitternden Lider und senkte sie gleich wieder.
    »Ich bin so müde«, murmelte sie. »Muss das jetzt sein, Gloria?«
    »Er bleibt nicht lang, Schätzchen.« Schätzchen? »Er braucht nur den ersten Teil.«
    Der erste Teil? Was war dann der zweite?
    »Aber das ist gerade der schwierigste Teil. Können Sie ihm das nicht einfach erzählen und mich damit in Ruhe lassen?«
    Er musste sich dringend ins Gespräch einbringen, zumal Gloria anscheinend nicht vorhatte, ihn vorzustellen.
    »Ich bin Kevin Infante, Detective beim Morddezernat Baltimore.«
    »Infante? Das italienische Wort für Kleinkind?« Die Augen blieben geschlossen. Er erkannte, dass er sie dazu bringen musste, sie zu öffnen. Noch nie war Infante so bewusst geworden, wie wichtig die Augen bei seiner Arbeit waren. Sicher hatte er schon öfter über die Bedeutung von Blickkontakt nachgedacht, wusste, was es hieß, wenn jemand seinen Blick nicht erwiderte. Aber er hatte noch nie mit einem Gegenüber
geredet,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher