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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
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konnte supermodisch sein oder aussehen wie nach einer Chemotherapie.
    Die Frau schlug die Augen auf und sagte: »Hi.« Kay, die bereits mit Brand- und Unfallopfern zu tun gehabt hatte und mit Frauen, die von Männern grün und blau geschlagen worden waren, war von dem starren Blick der Frau mehr betroffen als von irgendetwas, was sie je gesehen hatte. Was ihr geradezu ins Auge sprang, war die extreme Zerbrechlichkeit der Frau im Bett. Das ging ihr wahrlich unter die Haut. Die Frau war ein einziger Bluterguss, und die Platzwunde an ihrer Stirn war nichts im Vergleich zu ihrem verstörten Blick.
    »Ich bin Kay Sullivan, eine der Sozialarbeiterinnen hier im Haus.«

    »Wofür brauche ich eine Sozialarbeiterin?«
    »Die brauchen Sie nicht wirklich, aber Dr. Schumeier meint, ich könnte Ihnen vielleicht bei der Suche nach einem Rechtsanwalt helfen.«
    »Keinen Pflichtverteidiger. Ich brauche jemand Guten, jemanden, der sich Zeit für mich nimmt.«
    »Stimmt, die Pflichtverteidiger haben immer alle Hände voll zu tun, aber sie sind trotzdem …«
    »Nicht dass ich ihr Engagement nicht zu schätzen weiß. Es ist nur so – ich brauche jemand Neutralen. Jemanden, der in keinster Weise vom Staat abhängig ist. Pflichtverteidiger werden letztendlich auch vom Staat bezahlt. Schließlich – sagte mein Vater immer – können sie nicht leugnen, wer ihnen die Butterbrote schmiert. Staatsdiener. Er war selbst einmal einer von ihnen gewesen. Und er hat sie sehr verachtet.«
    Kay hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wie alt die Frau war. Die junge Ärztin sprach von vierzig, aber sie hätte ebenso gut fünf Jahre jünger oder älter sein können. Auf jeden Fall zu alt, um von ihrem Vater in diesem ehrfurchtsvollen Ton zu sprechen, als ob er ein Orakel wäre. Die meisten hatten das spätestens mit achtzehn hinter sich gelassen. »Ja …«, fing Kay an und versuchte ihre Rolle im Gespräch zu finden.
    »Es war ein Unfall. Ich bin in Panik geraten. Wenn Sie bloß wüssten, was mir alles durch den Kopf gegangen ist, bei diesem Autobahnabschnitt. Es ist schon so ewig lange her... Wie geht es dem kleinen Mädchen? Ich habe ein kleines Mädchen gesehen. Ich bringe mich um, wenn … Ich will es noch nicht mal laut aussprechen. Ich bin Gift für andere, ich bringe ihnen nur Kummer und Leid. Es ist ein Fluch. Ich komme davon nicht los, was ich auch tue.«
    Kay fiel plötzlich die Kirmes oben in Timonium ein, das Zelt mit der Monstrositätenschau; wie sie mit dreizehn all ihren Mut zusammengenommen hatte, reingegangen war und lediglich ein paar etwas auffällige Leute vorgefunden hatte –
dick, tätowiert, klapperdürr, riesengroß -, die einfach nur rumsaßen. Anscheinend hatte Schumeier sie doch richtig eingeschätzt. Ihr Besuch hier hatte etwas Voyeuristisches, ein Bedürfnis, hinzusehen, nichts weiter. Aber diese Frau redete weiter mit ihr, zog sie ins Gespräch hinein, plapperte, als ob Kay bereits alles über sie wüsste oder es noch erfahren sollte. Kay hatte schon viele Patientinnen wie sie gehabt, Leute, die so redeten, als wären sie berühmt, als stünde jedes Ereignis in ihrem Leben morgen in den Klatschblättern, als tauchte es in den Talkshows auf.
    Immerhin schien die Frau im Bett Kay zumindest wahrzunehmen; das war mehr als das, was die meisten Patienten fertigbrachten. »Sind Sie von hier?«
    »Ja, ich habe mein ganzes Leben hier gelebt. Ich bin im Nordwesten von Baltimore aufgewachsen.«
    »Und wie alt sind Sie? Fünfundvierzig?«
    Ah, das tat weh. Kay hatte sich an ihr Spiegelbild gewöhnt und mochte es sogar, aber jetzt musste sie es mit den Augen einer Fremden betrachten: die eher kleine, gedrungene Statur, die schulterlangen grauen Haare, die sie älter machten. Körperlich war sie fit, aber es war schwierig, Blutdruck, Knochendichte und Cholesterinspiegel beiläufig in einer Unterhaltung zu erwähnen. »Eigentlich neununddreißig.«
    »Ich nenne jetzt einen Namen.«
    »Ihren Namen?«
    »Lassen wir das fürs Erste. Ich nenne jetzt einen Namen.«
    »Ja.«
    »Es ist ein Name, den Sie entweder kennen oder nicht. Je nachdem, wie ich es darstelle. Es geht um ein Mädchen, das tot ist, was für niemanden wirklich überraschend kommt. Man ist ja all die Jahre davon ausgegangen, dass sie tot ist. Aber es gibt noch ein anderes Mädchen, und die ist nicht tot, und das ist schwerer zu erklären.«
    »Sind Sie …«

    »Die Bethany-Mädchen, Ostern 1975.«
    »Die Bethany… oh. Oh.« Und sofort fiel Kay alles wieder ein. Zwei
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