Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
Tratschen drauf, doch auch
damit hatte Kay kein Problem. Ihr war selten danach, das, was sie gelesen hatte, zu erörtern. Über die Personen in einem Buch zu reden, das sie gerade verschlungen hatte, war für sie, wie über gute Freunde zu lästern.
    Zwei Tische weiter ließ sich ein Trupp von jungen Ärzten nieder. Normalerweise war Kay Expertin im Geräuschkulisse ausblenden, aber die einzige Frau in der Gruppe zerschnitt die Luft mit ihrer schrillen Stimme.
    »Ein Mord!«
    Eine Woche verging ohne Nachricht von Mr. Rochester; zehn Tage vergingen, und noch immer kam er nicht.
    »Als ob das in Baltimore etwas Besonderes wäre. Es gibt – wie viele? Fünfhundert im Jahr?«
    Weniger als dreihundert im Stadtgebiet, verbesserte Kay sie leise. Und ein Zehntel davon im Umland. In Jane Eyres Welt kämpfte die junge Heldin mit Gefühlen für ihren Herrn, von denen sie wusste, dass sie unziemlich waren. Ich rief meine Empfindungen sogleich wieder zur Ordnung. Es war wunderbar, wie schnell ich diese kurzzeitige Unbesonnenheit überwand – wie es mir gelang, mit der irrigen Annahme aufzuräumen, ich hätte auch nur den geringsten Anlass, mich für Mr. Rochesters Tun und Lassen ernsthaft zu interessieren .
    »Meine Eltern waren entsetzt, als sie erfahren haben, dass ich hier anfangen will. Wenn ich schon nach Baltimore ziehe, warum dann nicht ans Johns Hopkins, ans Uniklinikum? Ich habe gelogen und ihnen erzählt, dass das St. Agnes in einem sehr netten Viertel liegen würde.«
    Dafür erntete sie höhnischen Beifall. Das St. Agnes war ein gutes Krankenhaus, Baltimores drittgrößter Arbeitgeber, dem es nicht an finanziellen Mitteln fehlte, aber das hatte nicht auf die nähere Nachbarschaft abgefärbt. Die Gegend schien in den letzten Jahren immer mehr zu verwahrlosen, Drogen und Kriminalität hatten sich breitgemacht. Diejenigen, die es sich leisten konnten, zogen in andere Viertel, immer weiter aus der
Stadt raus. Und auch die City boomte wieder. Yuppies, kinderlose ältere Paare sowie vermögende Washingtoner fanden es neuerdings schick, in einem der Apartmentblocks mit Blick aufs Wasser zu wohnen, jede Menge Restaurants vor der Haustür. Auf gute Schulen waren sie schließlich nicht angewiesen. Kay war froh, dass sie nicht rausgezogen war und das Haus in Hunting Ridge behalten hatte, so unpraktisch und irrsinnig teuer es auch war, die Kinder auf Privatschulen zu schicken. Der Wert ihres Hauses war inzwischen um mehr als das Dreifache gestiegen und erlaubte ihr, bei Engpässen die Hypothek anzuzapfen. Ihr Exmann kam für das Schulgeld auf. Er hatte eine klare Vorstellung von den großen Ausgaben, aber nicht die geringste Ahnung, was ein Kind tagtäglich alles brauchte, was alleine Sportschuhe, Erdnussbutter, Geburtstagsgeschenke in einem Jahr kosteten.
    »Ich habe gehört, sie ist so um die vierzig?« Die ungläubige Betonung der Zahl ließ keinen Zweifel daran, dass vierzig sehr, sehr alt war. »Und sie sagt, es sei vor dreißig Jahren passiert? Dann hat sie also mit zehn jemanden umgebracht! Und rückt jetzt erst damit heraus!«
    »Sie behauptet, glaube ich, nicht, dass sie es getan hätte«, warf eine männliche Stimme ein, die tiefer und bedächtiger klang. »Nur, dass sie von einem ungeklärten Verbrechen weiß, einem berühmten, sagt sie zumindest.«
    »Was? Vielleicht das Lindbergh-Baby?« Es war Kay nicht ganz klar, ob die junge Frau bewusst übertrieb oder ob sie tatsächlich glaubte, dass die Lindbergh-Entführung dreißig Jahre zurücklag. Junge Ärzte, ganz gleich, wie clever sie auch auf ihrem Fachgebiet sein mochten, waren dennoch in anderen Dingen bisweilen erschreckend unbedarft.
    Doch dann wurde Kay schlagartig bewusst, wie unsicher die junge Frau war. Hinter ihrer aufbrausenden Sprache verbarg sich die Unfähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren – dabei war gerade das eine unabdingbare Voraussetzung für ihren
Beruf. Oje, die Frau würde es schwer haben. Sie könnte immer noch auf Pathologie umschwenken, wo die Patienten bereits tot waren. Nicht weil die junge Ärztin gefühllos war, vielmehr weil sie sich zu sehr von ihren Gefühlen mitreißen ließ. Eine Bluterin im emotionalen Sinne. Kay fühlte sich plötzlich schlapp und erschöpft, ihre Glieder schmerzten. Es war fast, als wäre ihr diese fremde Frau auf den Schoß geklettert und wollte Trost bei ihr suchen. Noch nicht einmal Jane Eyre half da als Ablenkung. Sie nahm ihren Kaffee und verließ die Cafeteria.
    Mit zwanzig und auch noch mit dreißig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher