Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
hatte Kay geglaubt, dass diese plötzlichen Eingebungen sich auf ihre Kinder beschränkten. Deren Gefühle durchdrangen sie, als würde sie in deren Haut stecken. Sie durchlebte die Freude, den Ärger und die Trauer ihrer Kinder. Als Grace und Seth jedoch größer wurden, merkte sie, dass es ihr gelegentlich auch bei anderen so erging. Meistens waren diese Leute noch sehr jung. Aber unter bestimmten Umständen konnte Kay sich auch in Erwachsene so intensiv einfühlen. Für eine Sozialarbeiterin waren so viel Anteilnahme und Ergriffenheit nicht immer von Vorteil, und so hatte sie sich angewöhnt, sich nichts davon im Job anmerken zu lassen. Wenn es sie, so wie jetzt, allerdings unvorbereitet erwischte, warf es sie völlig aus der Bahn.
    Als sie zu ihrem Büro zurückkehrte, ertappte sie Schumeier aus der Psychiatrie dabei, wie er gerade einen Zettel an ihre Tür kleben wollte. Er sah verärgert aus, weil er dabei erwischt worden war, und sie fragte sich, warum er überhaupt hierhergekommen war, wenn er ihr ebenso gut eine E-Mail hätte schicken können. Schumeier war der lebende Beweis dafür, dass die Psychotherapie oftmals diejenigen in ihren Bann zog, die sie selbst am dringendsten nötig hatten. Wenn irgend möglich, vermied er gemeinhin den persönlichen Kontakt, selbst die direkte Unterhaltung. Das Mailen war für ihn wie geschaffen.

    »Letzte Nacht haben sie eine Frau eingeliefert …«, begann er.
    »Sie meinen die Frau, deren Namen wir noch nicht kennen?«
    »Ja.« Er war nicht weiter überrascht, dass Kay von der Frau wusste, ganz im Gegenteil. Höchstwahrscheinlich hatte er Kay genau aus diesem Grunde aufgesucht. Er müsste ihr nichts mehr erklären, und die Unterhaltung wäre kurz. »Sie weigert sich, mit dem Psychologen zu reden. Das heißt, sie hat kurz mit dem Arzt gesprochen, doch als die Unterhaltung ins Detail ging, hat sie gesagt, dass sie ohne Anwalt kein Wort mehr sagen würde. Aber mit einem Pflichtverteidiger will sie nichts zu tun haben, und einen Rechtsanwalt kennt sie auch nicht.«
    Kay seufzte. »Hat sie Geld?«
    »Sie sagt, sie hätte welches, aber das lässt sich schwer nachprüfen, wenn sie noch nicht mal ihren Namen nennt. Sie sagt, ohne Anwalt würde man nichts aus ihr herauskriegen.«
    »Und nun wollen Sie, dass ich …?«
    »Haben Sie nicht eine, ähm, Freundin? Diese Rechtsanwältin, die immer in der Presse auftaucht?«
    »Gloria Bustamante? Ich kenne sie. Wir sind nicht wirklich befreundet. Wir arbeiten nur beide ehrenamtlich für das hiesige Frauenhaus.« Und nein, ich bin nicht lesbisch , hätte Kay am liebsten hinzugefügt; sie war sich völlig darüber im Klaren, dass Schumeier genau das in dem Moment dachte. Wenn Gloria Bustamante, die Rechtsanwältin, deren sexuelle Neigungen nicht eindeutig festzumachen waren, mit Kay Sullivan bekannt war, die seit ihrer Scheidung kein Date mehr gehabt hatte, dann war daraus zu folgern, dass Kay bestimmt ebenfalls Lesbe war. Kay hatte bereits mehrfach in Betracht gezogen, sich einen Button anzustecken: ICH BIN NICHT LESBISCH, ICH LESE NUR GERN.
    »Ja, genau die. Könnten Sie sie vielleicht anrufen?«
    »Bevor ich das mache, sollte ich mir wahrscheinlich erst einmal diese Frau ansehen. Ich möchte Gloria nicht gern hierherbestellen, und dann stellt sich womöglich heraus, dass die Frau
gar nicht mit ihr reden will. Bei Glorias Preisen kostet alleine die Anfahrt fast sechshundert Dollar.«
    Schumeier grinste. »Sie sind neugierig, stimmt’s? Sie wollen auch einen Blick auf unsere Geheimnisvolle ergattern.«
    Kay senkte den Blick und kramte in ihrer Handtasche nach einem Pfefferminzbonbon, das sie eingesteckt hatte, als sie das letzte Mal mit Grace und Seth essen war. Schumeiers Bemerkungen dazu, was andere dachten oder fühlten, waren ihr schon immer zuwider gewesen, ein Grund mehr, sich versetzen zu lassen. Sie sind Psychiater, nicht Hellseher , hätte sie am liebsten gesagt, aber stattdessen murmelte sie nur: »In welchem Zimmer liegt sie denn?«
     
    Der junge Wachhabende, der vor Zimmer 3030 stand, löcherte Kay erst einmal mit Fragen, heilfroh, endlich etwas zu tun zu haben, aber schließlich ließ er sie doch hinein. Heruntergezogene Jalousien schirmten das Zimmer vor dem strahlend blauen Himmel draußen ab. Die Frau war offensichtlich im Sitzen eingeschlafen. Ihr Kopf merkwürdig nach links verdreht, wie der eines Kindes im Autositz. Ihre Haare waren sehr kurz, bei jemandem ohne ausgeprägte Wangenknochen ein gewagter Schnitt. Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher