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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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dem Volke, halbwüchsige Burschen und Greise, junge Mädchen, kleine Kinder, Kranke in Rollwagen.« Alles quirlt und quillt an jenem herrlich warmen Junitag durcheinander, schreit, politisiert und schwitzt. Immer wieder ertönt der Ruf: »Hinaus mit den Juden!« Schlagartig verebben der Lärm und das Stakkato der Parolen. Wie aus einem Mund erschallt das »Hoch Dr. Karl Schwertfeger, hoch, hoch, hoch! Hoch der Befreier Österreichs!« Langsam rollt die offene schwarze Staatskarosse durch die Menge. Schwertfeger, »unser geistvoller Führer«, ein Mann, der im Dienst der nationalen Aufgabe – wie Lueger und später Hitler – Junggeselle blieb, entsteigt dem Wagen. Über die Freitreppe schreitet er ins Hohe Haus. Dort wird er das in der Öffentlichkeit schon länger besprochene »Gesetz zur Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich« eingehend begründen.
    Es regelt für »Juden und Judenstämmlinge« die lückenlose Ausweisung binnen sechs Monaten, ebenso die damit verbundenen Vermögensfragen, und droht denjenigen die Todesstrafe an, die dem Gesetz zum Trotz heimlich in Österreich bleiben oder bei der Ausweisung versuchen, »größere als erlaubte Summen fortzuschleppen«. Als Judenstämmlinge werden Kinder aus »Mischehen« mit Christen bezeichnet. Wie die getauften Juden müssen auch sie das Land verlassen. Das gilt »nach reiflicher Überlegung« nicht für die Kindeskinder aus Mischehen, »vorausgesetzt, dass sich die Eltern nicht wieder mit Juden gemischt haben«. Ausnahmen für alte und kranke Juden oder für solche, »die besondere Verdienste um den Staat haben«, verbietet das Gesetz ausdrücklich. Anderenfalls würden das jüdische Geld und jüdischer Einfluss »Tag und Nacht weiterarbeiten«, erläutert Schwertfeger: »Nein, es gibt keine Ausnahme, es gibt keine Protektion, es gibt kein Mitleid und kein Augenzudrücken!«
    Aber warum erscheint Dr. Schwertfeger und seinen jubelnden Anhängern das Gesetz überhaupt erforderlich? Der Erlöser Österreichs nennt dafür ein einziges Motiv. Er schildert seine christlichen Landsleute als Angehörige eines »naiven«, »treuherzigen«, »guten«, aber sich etwas langsam entwickelnden Bergvolkes, das den Juden »nicht gewachsen« sei. Deshalb schlägt er Alarm: »Die Juden unter uns dulden diese stille Entwicklung nicht.« Schwertfeger kreidet den Juden ihren schnellen sozialen Aufstieg an und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Erfolg: »Wer fährt im Automobil, wer prasst in den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuser, wer die vornehmen Restaurants, wer behängt sich und seine Frau mit Juwelen und Perlen? Der Jude!« Wie konnten es die Juden so weit und im Vergleich zu den christlichen Österreichern so viel weiter bringen? »Mit ihrer unheimlichen Verstandesschärfe, ihrem von Tradition losgelösten Weltsinn, ihrer katzenartigen Geschmeidigkeit, ihrer blitzschnellen Auffassung, ihren durch jahrtausendelange Unterdrückung geschärften Fähigkeiten haben sie uns überwältigt, sind unsere Herrn geworden, haben das ganze wirtschaftliche, geistige und kulturelle Leben unter ihre Macht bekommen.« Brausender Beifall.
    Im Anschluss ergreift der einzige zionistische Abgeordnete des Parlaments das Wort, Ingenieur Minkus Wassertrilling. Er begrüßt das Gesetz, weil sich von den Ausgewiesenen »wohl die Hälfte unter dem zionistischen Banner vereinigen« und nach Zion auswandern werde. Sodann drängen kräftige Kerle einige Abgeordnete vorsorglich aus dem Saal, und das Parlament nimmt die Vorlage einmütig an. Sie wird »am selben Tag durch den Ausschuss und die zweite und dritte Lesung gepeitscht«. Am Abend steigt die schier endlose Freudenfeier des Volkes.
    In der folgenden Woche bereiten arische Schriftsteller das Ende ihres Mauerblümchendaseins im österreichischen Literaturbetrieb vor. Bis dahin hatten ihre lähmend langweiligen Theaterstücke »jahrelang in den Schubladen der Dramaturgen geschlummert«, hatten ihre schwergängigen Traktate, die sie sich in endlosen Jahren abgequält hatten, kaum einen Leser gefunden und in den Verlagen Staub angesetzt. Jetzt aber fiebern diese Autoren künftigem Ruhm entgegen. Dagegen setzt der hoffnungsvolle jüdische Lyriker Max Seider seinem Leben ein Ende, »um seine müde, empfindsame Seele nicht in der Fremde frieren lassen zu müssen«. Journalisten, die Weltblätter redigierten, gehen nach London und gründen die Wochenschrift »Im Exil«. Die Wiener Huren tragen Trauer. Ihnen bleiben die notorisch
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