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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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unterkühlten geschlechtlichen Austauschs. Der Nationalfeiertag wird als »Tag der vollendeten Gerechtigkeit« begangen. Der Einzige Staat garantiert die nach einem 200-jährigen, opferreichen Krieg erkämpfte Gesellschaftsordnung. Er wird von dem alljährlich in überwältigender Einstimmigkeit gewählten Wohltäter geführt. »Heil dem Einzigen Staat! Heil dem Wohltäter! Heil den Nummern!« So jubelt das homogenisierte und spannungsfrei lebende Volk, das in gläsernen, einheitlich kubischen Häusern wohnt und mit der Flugmaschine Integral das All erforscht.
    Freilich bleibt Wachsamkeit gegenüber den Schwachen geboten, die der uralten Anfechtung der Freiheit erliegen und damit für die Glückseligkeit der Gleichen eine akute Gefahrenlage heraufbeschwören. Solche dem Wahnsinn verfallene Nummern verlieren das Recht, »Bausteine des Einzigen Staates zu sein«. Sie enden »durch die Maschine des Wohltäters« unter den hochkonzentrierten Strahlen eines mit hunderttausend Volt betriebenen, auf dem zentralen Platz aufgestellten Apparats. Übrig bleibt »eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers« – »nichts weiter als die Dissoziation der Materie, die Spaltung der Atome des menschlichen Körpers«.
    Das spurlose Auslöschen der Abweichler zelebriert der Wohltäter als rituell ausgestalteten, gemeinsam begangenen Reinigungsakt zum höheren Nutzen der Nummern. Dafür lässt er, um das Gemeinwohl zu wahren, von seinem Beschützeramt die Gespräche aller Passanten registrieren, und zwar mit Hilfe von über die Straßen gespannten, die kleinsten Geräusche speichernden Membranen. Einige Abweichler werden nicht verdunstet, sondern zu Forschungszwecken in Spiritus eingelegt, um die Gefahr einer Individualismus-Epidemie besser zu verhüten, um die Reste einer gelegentlich noch vorhandenen Seele auszumerzen.
    Derart beschreitet der Wohltäter des Einzigen Staates den Weg von der Nichtigkeit zur Größe. Die in soziale Harmonie gebannten Nummern begehen einmal im Jahr das Schauspiel der Einstimmigkeit. Im Roman wählen sie zum 48. Mal den Wohltäter. Mit andächtig erhobenen Händen übergeben sie IHM für ein weiteres Jahr die Schlüssel zur unbezwingbaren Feste ihres Glückes. Einige Feinde des Glücks versuchen zu stören und verwirken ihr Lebensrecht. Schließlich entwickeln die Forscher ein Verfahren zur generellen Gefahrenprävention. Ein wissenschaftlicher Durchbruch! Mit einem kleinen operativen Eingriff gelingt es ihnen, die Nummern endgültig von den Resten alten Fühlens zu befreien, indem sie eine menschheitsgeschichtliche Fehlentwicklung, nämlich ein Knötchen im Stammhirn, ausschalten, das die Phantasie ermöglichte. Wer sich der Operation verweigert, endet durch die Maschine des Wohltäters.

    »Die Stadt ohne Juden« heißt der 1922 im Wiener Gloriette-Verlag erschienene Groschenroman, versehen mit dem Untertitel »Ein Roman von übermorgen«. Er wurde 250 000 Mal verkauft. Zwei Jahre nach Erscheinen verfilmte Hans Karl Breslauer den Stoff. Der Autor, Hugo Bettauer, war vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten; allein 1922 produzierte er vier solcher Romane. Zudem warb er für sexuelle Freizügigkeit und gab die überaus erfolgreiche Zeitschrift Er und Sie (Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik) heraus.
    Wie im wirklichen Leben herrschen in dem Roman Inflation und Krise. Das Volk wählt die Erlösergestalt Dr. Karl Schwertfeger zum Bundeskanzler. Er leitet die Christlich-Soziale Partei. Vorname, Doktortitel und Partei erinnern an Bürgermeister Dr. Karl Lueger, der Wien von 1897 bis 1910 tatkräftig modernisierte, sich um die Armen kümmerte und um den christlichen Mittelstand, gegen die Juden hetzte und, wie sich der Augenzeuge Hitler erinnerte, stets in der offenen Kutsche und unter dem Jubel der Bürger durch die Stadt fuhr. Die im Roman angegebene Zahl von 500 000 jüdischen Inländern passt für das Deutschland der Zwischenkriegszeit, nicht für Österreich, wo damals etwa 200 000 Juden lebten.
    Bettauer führt seine Geschichte zum Happy End. Nachdem die jüdischen Bewohner der Stadt ausnahmslos des Landes verwiesen worden sind, dürfen sie nach einiger Zeit zurückkehren, weil die Wirtschaft und das Geistesleben verkümmern. Davon handelt der zweite Teil. Im ersten erzählt der Autor, warum und wie die Juden aus der Stadt befördert werden. Eine Massenszene vor dem Parlamentsgebäude eröffnet das Geschehen. Ganz Wien ist auf den Beinen: »Bürger und Arbeiter, Damen und Frauen aus
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