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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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ihre Grausamkeit. Was immer einer von uns auszudrücken vermag, es genügt nicht.« [16]
    Kurt Blumenfeld starb 1963, 30 Jahre nach dem Beginn der neuen Wirklichkeit. Seither ist wieder ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Spätfolgen des Unsagbaren sind nicht überwunden. Leicht wird es nie sein, einigermaßen angemessene Sätze für den deutschen Zerstörungswillen zu finden, der schließlich, und dann fast ungebremst, zur physischen Ausrottung der angefeindeten Juden führte.
    Im Vergleich zu 1961 konnten mittlerweile einige Tausend Staatsanwälte, Kriminalbeamte, Richter, Journalisten, Historiker und die zur Zeugenschaft und zum Erinnern entschlossenen oder später ermutigten Überlebenden das Wissen über den Holocaust erheblich vermehren. Über die Tatumstände, über die wichtigsten Fakten und Indizien streiten die vielen nicht mehr, die über das Großverbrechen forschen und nachdenken. Die unmittelbaren Gründe, aus denen heraus die deutsche Führung die »Endlösung der Judenfrage« betrieb, sind im Wesentlichen klar; Meinungsverschiedenheiten bestehen in der Gewichtung einzelner Faktoren. Alle an der Diskussion Beteiligten betonen die eminente Bedeutung des Geschichtsbruchs Holocaust. Wohl deshalb wird noch lange strittig bleiben, worin die Bedeutung eigentlich liegt und welches die tieferen Ursachen waren. Die Antworten werden immer fragmentarisch bleiben, aber Historiker müssen danach suchen. Die Grenzen des Erklärbaren überwinden sie nicht.

    In Anbetracht des großen Zeitrahmens, den die folgende Untersuchung umfasst, benutze ich fast ausschließlich gedruckte Quellen, seien es Streitschriften, Petitionen, Lebensbeschreibungen, Zeitungsartikel oder Parlamentsprotokolle. So unterschiedlich und oft gegensätzlich diese Texte sind, so verbindet sie eines: Sie wurden von Zeitgenossen verfasst, die nicht wussten, was Deutsche den Juden Europas zwischen 1933 und 1945 antun würden. Das erscheint mir methodisch ratsam. Die Autoren, die 1820, 1879, 1896 oder 1924 über den Antisemitismus und die Minderwertigkeitsgefühle von Deutschen schrieben oder den Judenhass und die Selbsterhöhung der arischen Rasse propagierten, die 1930/32 die politisch bedrohlichen Folgen von Wirtschaftskrisen oder die Anziehungskraft Hitlers und seiner Partei analysierten, kannten die Folgen nicht. Diejenigen, die damals lebten, beobachteten und urteilten, standen – anders als die Nachgeborenen – noch nicht unter dem doppelten Zwang, ein schier unbeschreibliches Verbrechen zu erklären und zugleich – in menschlich verständlicher Weise – Distanz herzustellen.
    Nur ausnahmsweise ziehe ich ungedruckte Quellen heran, namentlich solche aus dem sieben laufende Meter umfassenden Archiv der Familie Aly. Ich habe die Papiere 2007 geerbt und neu geordnet. Einige Urkunden reichen bis zum Dreißigjährigen Krieg zurück. Doch enthält das Archiv vor allem Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen und Fotos, überwiegend aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Meine Frage an diese Quellengattung lautet: Wenn der deutsche Antisemitismus eine Massenerscheinung gewesen ist, die man vor 1933 nicht verstecken musste, dann muss er in den Briefen oder Lebenserinnerungen deutscher Familien seinen Niederschlag gefunden haben. In den Hinterlassenschaften meiner Vorfahren konnte ich einige einschlägige Dokumente finden. Ich integriere sie als gesellschaftsgeschichtliche Zeugnisse in den Text. Indem ich Quellen privater Provenienz einbeziehe, widerspreche ich Darstellungen, in denen so getan wird, als ließe sich die deutsche Judenfeindschaft und damit die Vorgeschichte des Holocaust in bestimmte Namen einzelner deutscher Institutionen, Verbände oder bekannter Antisemiten bannen.
    Wer sich vergangenen Verhältnissen annähern will, dem bleibt nur übrig, sich die Handlungsbedingungen und Denkgewohnheiten im zeitlichen Horizont der damals Lebenden zu vergegenwärtigen. Das Verfahren erlaubt, geschichtliche Tendenzen zu konturieren, die hernach mit anderen – nicht zwingend negativen – Faktoren zusammentrafen und so verstärkt wurden. Deshalb ziehe ich über die lange strittige Judenemanzipation hinaus die Geistesverfassung der deutschen Nationalrevolutionäre des frühen 19. Jahrhunderts in Betracht, ebenso das Scheitern des Liberalismus und den Siegeszug des Kollektivismus. Zudem nehme ich die Folgen von Kriegen, Krisen und wirtschaftlichen Kraftakten, aber auch die beachtliche Bildungsreform der
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