Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr
Autoren: Philip K. Dick
Vom Netzwerk:
gefiel) mit einem Nasenring geschmückt, der in den oberen Kreisen der Bourgeoisie als Zeichen für die Heiratsfähigkeit galt.
    »Was ist eigentlich der Zweck dieser Konferenz?« wandte sich Eric an Virgil Ackerman. »Können wir denn nicht, um Zeit zu sparen, bereits jetzt damit beginnen?« Eric war gereizt.
    »Es ist eine Vergnügungsreise«, erklärte Virgil. »Eine Möglichkeit, für kurze Zeit die verdammten Geschäfte zu vergessen. Im 35er Wash erwartet uns ein Gast; ich nehme an, daß er bereits da ist … ich habe ihm einen Blankoscheck gegeben: habe für ihn mein Babyland geöffnet – das erste Mal, daß ich das für jemanden gemacht habe.«
    »Wer ist es?« erkundigte sich Harv. »Schließlich befindet sich das 35er Wash technisch gesehen im Besitz der Gesellschaft, und wir gehören zum Vorstand.«
    »Wahrscheinlich hat Virgil all seine authentischen Karten aus der Reihe Die Schrecken des Krieges an diesen Burschen verloren«, bemerkte Jonas in ätzendem Tonfall. »Was blieb ihm also anders übrig, als ihm die Tür zu diesem Ort zu öffnen?«
    »Ich spiele weder mit meinen FBI-Karten, noch mit den Schrecken des Krieges«, stellte Virgil richtig. »Nebenbei bemerkt, besitze ich ein Duplikat des Untergangs der Panay. Eton Hambro – ihr wißt schon, dieser Fettsack, der bei Manfrex Enterprises Aufsichtsratvorsitzender ist – hat es mir zu meinem Geburtstag geschenkt. Ich dachte, jeder wüßte, daß meine Sammlung komplett ist, aber Hambro war offenbar nicht darüber informiert. Kein Wunder, daß seine sechs Fabriken heute von Freneksys Leuten geführt werden.«
    »Erzähl uns von Shirley Temple in ihrem Film The Littlest Rebel«, bat Phyllis gelangweilt, während sie noch immer die Sterne betrachtete. »Erzähl uns, wie sie …«
    »Du hast den Film selber gesehen.« Virgils Stimme klang verärgert.
    »Ja, aber ich kann nie genug davon bekommen«, erwiderte Phyllis. »Ich finde den Film noch immer bis zum letzten Meter faszinierend.« Sie drehte sich zu Harv herum. »Dein Feuerzeug.«
    Eric erhob sich von seinem Sitz, betrat die Kombüse des kleinen Schiffes, setzte sich an den Tisch und griff nach der Getränkekarte. Seine Kehle war trocken; das Gezänk, dem sich die Mitglieder des Ackerman-Clans hingaben, machte ihn immer durstig, als sei er nach einem beruhigenden Elixier süchtig … vielleicht, dachte er, nach einem Ersatz für die Muttermilch, die Urmilch des Lebens. Ich hätte auch ein eigenes Babyland verdient, sagte er sich halb im Scherz. Aber nur halb.
    Für jeden außer Virgil Ackerman war das Washington des Jahres 1935 Zeitverschwendung, weil sich nur Virgil an die Stadt, die Zeit, den Ort und das Milieu erinnerte, an die Dinge, wie sie damals wirklich gewesen waren und die nun schon so lange zurücklagen. Deshalb bestand das 35er Wash in jedem Detail aus einer sorgfältigen, mühevollen Rekonstruktion jener begrenzten Kindheitswelt, die Virgil gekannt hatte und die von Kathy Sweetscent, seiner Antiquitätenberaterin, ständig verfeinert und auf ihre Authentizität hin überprüft wurde – ohne daß sie sich jemals wirklich veränderte: sie war erstarrt, verhaftet mit der toten Vergangenheit … zumindest soweit es den Rest des Clans betraf. Aber für Virgil war sie natürlich lebendig. Dort blühte er auf. Er regenerierte dort seine nachlassenden biochemischen Energien und kehrte dann zurück in die Gegenwart, in die wirkliche Welt, die er kannte und manipulierte, ohne sich jedoch in ihr heimisch zu fühlen.
    Und sein großes, regressives Babyland war bekannt geworden und hatte sich zu einer Mode entwickelt. Andere Top-Industrielle und Geldleute – oder um es brutal und offen zu sagen: andere Kriegsgewinnler – hatten ebenfalls lebensgroße Modelle ihrer eigenen Kindheit angelegt; Virgils Babyland war nicht mehr einzigartig. Natürlich erreichten die anderen nicht die Komplexität und Authentizität von Virgils Schöpfung; Fälschungen antiker Gegenstände waren überall verbreitet. Aber um der Gerechtigkeit willen, dachte Eric, mußte man zugeben, daß niemand das Geld und die wirtschaftlichen Mittel besaß, um dieses zugegebenermaßen einzigartig kostspielige und vollkommen unpraktische Wagnis einzugehen. Und dies alles inmitten dieses schrecklichen Krieges.
    Aber dennoch war es auf seine absonderliche Art harmlos. Es erinnerte ein wenig an Bruce Himmels schrullige Beschäftigung mit den rasselnden Wägelchen. Niemand erlitt dadurch Schaden. Was man schwerlich von der nationalen Aufgabe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher