Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr
Autoren: Philip K. Dick
Vom Netzwerk:
habe es wieder geschafft, Sie auf den Arm zu nehmen – zum zweiunddreißigsten Mal.« Rituell klopfte er Eric auf die Schulter, lächelte heiter und entblößte dabei seine natürlich geformten, elfenbeinfarbenen Zähne, die im Licht lebhaft funkelten. »Mir liegt es fern, Sie zu kränken, Doktor; schließlich könnte ich jeden Augenblick eine neue Leber benötigen … Als ich gestern Nacht zu Bett ging, habe ich einige schlimme Stunden durchgemacht, und ich glaube, daß es wieder an der Blutvergiftung lag. Ich fühlte mich wie erschlagen.«
    Dr. Eric Sweetscent saß neben Virgil Ackerman. Er drehte den Kopf. »Wie lange waren Sie auf, und was haben Sie getan?«
    »Tja, Doktor, da war dieses Mädchen.« Virgil grinste boshaft Harvey, Jonas, Ralf und Phyllis Ackerman an, die anderen Mitglieder der Familie, die um ihn herum in dem kleinen, konischen Interplanschiff saßen, das sich mit hoher Geschwindigkeit auf dem Weg von der Erde zum 35er Wash auf dem Mars befand. »Muß ich noch mehr sagen?«
    Seine Urgroßnichte Phyllis sagte streng: »Großer Gott, du bist doch viel zu alt. Irgendwann wird dir dabei das Herz stehenbleiben. Und was wird sie dann denken? Es ist würdelos, während dem Du-weißt-schon-was zu sterben.« Mißbilligend sah sie Virgil an.
    »Dann«, krächzte Virgil, »wird die für derartige Notfälle in meiner rechten Hand eingebaute Sterbekontrolle Dr. Sweetscent herbeirufen, der auf der Stelle mein krankes altes Herz herausholt und ein funkelnagelneues einsetzt, und ich …« Er kicherte und wischte dann mit einem zusammengefalteten, leinenen Taschentuch den Speichel von Kinn und Unterlippe. »Und ich werde dann weitermachen.« Seine papierdünne Haut glänzte, und man konnte sogar deutlich sehen, wie seine Knochen, die Umrisse seines Skelettes vergnügt und heiter zitterten, weil es ihm gelungen war, sie zu schockieren; sie besaßen keinen Zugang zu seiner Welt, zu seinem Privatleben, das er aufgrund seiner privilegierten Position selbst in dieser Zeit des Mangels, die der Krieg mit sich gebracht hatte, genießen konnte.
    »›Mille tre‹«, zitierte Harvey säuerlich Da Ponte. »Ich hoffe, wenn ich einmal in deinem Alter bin …«
    »Du wirst niemals in mein Alter kommen«, knurrte Virgil, während seine Augen vor Vergnügen tanzten und glühten. »Vergiß es, Harvey. Vergiß es und kümmere dich um deine Steuerunterlagen, du verdammter Rechenschieber. Dich wird man bestimmt nicht tot im Bett neben einem Mädchen finden, sondern neben einem« – Virgil suchte nach einem treffenden Ausdruck –, »neben einem Tintenfaß.«
    »Ich bitte dich!« entfuhr es Phyllis, und dann wandte sie den Kopf und blickte hinaus zu den Sternen und der Finsternis des interplanetaren Weltraums.
    »Ich würde Sie gerne etwas fragen«, bemerkte Eric und sah Virgil forschend an. »Es geht um eine grüne Packung Lucky Strike. Vor ungefähr drei Monaten …«
    »Ihre Frau liebt mich«, unterbrach Virgil. »Ja, die Packung war für mich bestimmt, Doktor; ein Geschenk ohne irgendwelche Hintergedanken. Also regen Sie sich wieder ab; Kathy ist nicht interessiert. Außerdem würde das nur zu Problemen führen. Frauen gibt es überall, aber Transplantspezialisten …« Er dachte nach. »Hm, wenn ich es mir richtig überlege, gibt es davon auch genug.«
    »Das habe ich Eric heute morgen schon gesagt«, bemerkte Jonas. Er blinzelte Eric zu, der ihn hartnäckig ignorierte.
    »Aber ich mag Eric«, fuhr Virgil fort. »Er ist ein ruhiger Charakter. Schaut ihn euch doch an. Vollkommen vernünftig, ein Verstandesmensch, der jeder Krise gelassen begegnet; ich habe ihm schon oft bei der Arbeit zugesehen, Jonas, ich weiß Bescheid. Und er ist zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit … und so etwas findet man selten.«
    »Du bezahlst ihn«, erklärte Phyllis knapp. Wie immer war sie wortkarg und in sich gekehrt; Virgils attraktive Urgroßnichte, die im Aufsichtsrat der Gesellschaft saß, war ein kaltes, nüchternes Geschöpf und ähnelte sehr dem alten Mann, ohne allerdings seine Schrullen zu besitzen. Für sie zählten nur Geschäfte und Geld. Wüßte sie von Himmels Aktivitäten, dachte Eric, wären die kleinen, umherrollenden Wägelchen bereits verschwunden; in Phyllis’ Welt gab es keinen Platz für Spielereien. Sie erinnerte ihn ein wenig an Kathy. Und wie Kathy war sie bemerkenswert sexy; sie trug ihr langes, ultramarin gefärbtes Haar zu einem Zopf geflochten und hatte sich mit automatisch rotierenden Ohrringen und (was ihm weniger
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher