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Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr
Autoren: Philip K. Dick
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Portier. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe; ich weiß, daß Sie die Scheine selbst gedruckt haben.« Angewidert warf er den Schein zurück zu den anderen. »Was für ein albernes Geld. Ziehen Sie ab.«
    Eric nahm seinen Fünfer, ließ die 2155er Noten auf dem Tresen liegen, wandte sich ab und verließ mit der Packung G-Totex blau das Hotel.
    Es gab viele häßliche kleine Gassen in Tijuana, selbst jetzt nach dem Krieg; er stieß auf einen schmalen, düsteren Weg zwischen zwei Ziegelsteinhäusern, der von Laub übersät und mit überquellendem Müll aus zwei riesigen Ascheimern bedeckt war, die einst als Ölbehälter gedient hatten. Er setzte sich auf die unterste Stufe einer Holztreppe, die zu einem Hintereingang hinaufführte, entzündete eine Zigarette, rauchte und überlegte. Von der Straße aus konnte er nicht gesehen werden; die Menschen eilten auf dem Bürgersteig an ihm vorbei, ohne auf ihn zu achten, und er begann sie zu beobachten, vor allem die Mädchen. Auch in diesem Punkt hatte sich im Vergleich zu früher nichts geändert. Die Mädchen auf den Straßen von Tijuana kleideten sich mit unnachahmlichem Geschick: hohe Absätze, Angorapullover, glänzende Taschen, Handschuhe, die Jacke über die Schulter geworfen. Eines eilte vorbei, mit hohen, spitzen Brüsten, und ihr Geschmack verriet sich sogar in ihrem modernen BH. Was für ein Leben führten diese Mädchen? Wo hatten sie gelernt, sich so gut zu kleiden, von dem Problem mal ganz abgesehen, sich eine derart teure Garderobe zu finanzieren? In seiner eigenen Zeit hatte er sich dies schon gefragt, und er fragte sich dies auch jetzt.
    Die Antwort, spekulierte er, würde er nur erhalten, wenn er eines von diesen Tijuana-Mädchen anhielt und es fragte, wo es lebte und ob es seine Kleidung hier oder jenseits der Grenze kaufte. Er fragte sich, ob diese Mädchen schon jemals in den Vereinigten Staaten gewesen waren, ob sie vielleicht Freunde in Los Angeles besaßen und ob sie so gut im Bett waren wie sie aussahen. Irgend etwas, eine unsichtbare Kraft, ermöglichte ihnen dieses Leben. Er hoffte, daß diese Kraft sie nicht gleichzeitig auch frigide machte – was wäre das für eine Travestie des Lebens.
    Schlimm an diesen Mädchen ist nur, dachte er, daß sie so schnell altern. Es stimmt, was man so hört; mit dreißig sind sie verbraucht, fett, BH und Jacke und Tasche und Handschuhe sind verschwunden, und alles, was bleibt, sind die dunklen, feurigen Augen, die unter den buschigen Brauen hervorschauen, und das ursprüngliche schlanke Geschöpf ist irgendwo eingesperrt, wo es weder sprechen noch spielen oder lieben oder fliehen kann. Das Klappern der Absätze auf dem Pflaster, der Drang nach dem Leben; alles ist verschwunden, und nur ein schlurfender, schleppender Laut bleibt zurück. Der entsetzlichste Laut, den es in dieser Welt gibt: der des Es-war-einmal; lebendig in der Vergangenheit, verfallen in der Gegenwart, ein Leichnam aus Staub in der Zukunft. Nichts verändert sich in Tijuana, und dennoch beendet niemand seine normale Lebensspanne. Die Zeit vergeht hier so schnell, und gleichzeitig bleibt sie stehen. Man nehme nur meine Situation, dachte er. Ich begehe zehn Jahre in der Zukunft Selbstmord, oder besser, ich lösche ein Leben aus, das zehn Jahre zurückliegt. Wenn ich dies wirklich tue, was wird dann aus dem Eric Sweetscent, der jetzt für Kaiser in Oakland arbeitet? Und die zehn Jahre, die er damit verbracht hat, sich um Kathy zu kümmern – wie wirkt sich das auf sie aus?
    Vielleicht ist dies mein schwacher Versuch, sie zu verletzen. Eine weitere Strafe, weil sie krank ist.
    Unter meiner oberflächlichen Vernunft verbergen sich verschrobene Ansichten, dachte er. Man kann die Kranken nicht genug strafen. Ist es das? Mein Gott, sagte er sich. Kein Wunder, daß ich mich selbst hasse.
    Er hielt die Packung G-Totex blau in der Hand, versuchte, ihr Gewicht zu schätzen. Spürte die Anziehungskraft der Erde. Ja, dachte er, die Erde mag sogar dieses hier. Sie akzeptiert alles.
    Etwas rollte über seinen Schuh.
    Er senkte den Kopf und entdeckte ein kleines Wägelchen, das in den Schutz der Schatten und Abfallhaufen davonrollte.
    Das Wägelchen wurde von einem anderen verfolgt. In dem Gewirr der alten Zeitungen und Flaschen trafen sie aufeinander, und dann erbebte der Abfall, und Teile flogen nach allen Richtungen, als die beiden Wägelchen miteinander kämpften, sich gegenseitig rammten und versuchten, das Lenkzentrum des Gegners, den Faulen
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