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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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Frau? Kultiviertheit? Großes Wort. Wissen denn gnädige Frau überhaupt, was Kultiviertheit ist? Gnädige Frau streichen sich, nicht wahr, die Zehennägel rot. Und pflegen nachmittags oder vor dem Einschlafen ein bißchen in einem schönen Buch zu lesen. Und manchmal beliebt es auch, dem Wohlklang von Musikstücken nachzuträumen, nicht wahr?« Es machte ihm manchmal Spaß, so altmodisch und spöttisch zu reden. »Nein, Gnädige, die Kultiviertheit ist etwas anderes. Die Kultiviertheit, meine Beste, ist ein Reflex.«
    Ich sehe ihn, als säße er da. Stör mich nicht. Ich höre ihn, als spräche er zu mir. Einmal hat er gesagt … Weißt du, jetzt redet man so viel von Klassenkampf, davon, daß es aus ist mit den Herrschaften, daß wir jetzt dran sind und uns alles gehört, denn wir sind das Volk. Ich weiß nicht. Da ist das ungute Gefühl dabei, daß sich die Sache vielleicht doch nicht ganz so verhält. Denn diesen anderen bleibt am Ende doch etwas, das sie nicht hergeben. Was man ihnen nicht mit Gewalt wegnehmen kann. Und was man sich auch nicht an der Universität holen kann, mit staatlich unterstützter Nichtstuerei. Wie gesagt, ich weiß nicht recht. Aber ich vermute, daß da noch etwas ist. Ich bekomme fast Krämpfe, wenn ich daran denke, und einen sauren Geschmack im Mund. Der Glatzkopf hat gesagt, es sei ein Reflex. Weißt du, was das ist?
    Laß meine Hand. Sie zittert nur aus Nervosität. Jetzt ist es schon vorbei.
    Wenn er etwas sagte, verstand ich es nie auf Anhieb, aber irgendwie verstand ich ihn trotzdem.
    Später habe ich einen Arzt gefragt, was das sei, Reflex. Er hat gesagt, Reflex sei dann, wenn dein Bein ausschlägt, wenn man mit einem Gummihammer auf dein Knie klopft. Aber der Schriftsteller dachte an ein anderes Ausschlagen.
    Als er verschwunden war und ich ihn umsonst in der ganzen Stadt suchte, kam mir so eine Ahnung, daß er selbst der Reflex gewesen war. Er, der ganze Mensch, mit Haut und Haar, in seinem Regenmantel. Nicht das, was er schrieb. Das kann nicht so wichtig sein, es gibt ja auf der Welt genug Bücher, in den Bibliotheken und Buchhandlungen. Manchmal denke ich, es gibt so viele Bücher, so viele Wörter, daß die Gedanken gar keinen Platz mehr haben. Nein, was er geschrieben hatte, war bestimmt nicht mehr wichtig. Und ihn kümmerte es nicht, daß er einmal etwas geschrieben hatte, es war ihm eher peinlich. Er lächelte verschämt, als ich ihn einmal ganz vorsichtig nach seinen Büchern fragte. Als hätte ich einen Fehltritt aus seiner Jugend erwähnt. Da tat er mir leid. Es schien auch eine große Wut oder Zorn oder Traurigkeit in diesem Menschen zu sein. Er verriet es manchmal mit dem Zucken seiner Lippen oder seiner Lider. Als wäre eine ätzende Säure auf seine Seele getropft.
    Als ob die großen Statuen, die berühmten Bilder und weisen Bücher nicht separat existierten, sondern als wäre er selbst auch ein winziger Teil dessen, was jetzt unterging. Er selbst ging unter, zusammen mit dem Ganzen. Statuen und Bücher können offenbar noch eine Weile übrigbleiben, während die Kultiviertheit schon vergangen ist. Aber verstehe das, wer kann.
    Als ich während der Belagerung bei diesem Menschen saß und ihn betrachtete, dachte ich, wie dumm ich gewesen war, da ich in meiner Kindheit, in der Grube, und dann später als Dienstmädchen im vornehmen Haus und noch später in London, wo mir der Grieche allerlei Kunststückchen beibrachte, daß ich da also gemeint hatte, die Reichen seien kultiviert. Jetzt weiß ich, daß sich der Reiche nur der Kultur bedient, sich damit vollstopft, doch man lernt das erst viel später und zu einem hohen Preis. Was? Na eben, daß Kultiviertheit daraus besteht, daß ein Mensch oder ein Volk zur Freude fähig ist. Es heißt, die alten Griechen seien kultiviert gewesen. Ich weiß es nicht. Mein Grieche in London war in diesem Sinn nicht kultiviert. Seine größte Sorge war das Geld und alles, was man damit kaufen konnte, Aktien, Gemälde, eine Frau, zum Beispiel mich. Doch es heißt, einst seien die Griechen kultiviert gewesen, denn das ganze Volk hätte sich zu freuen vermocht. Alle, die Töpfer, die kleine Figuren formten, die Ölhändler, die Soldaten, das Volk auf dem Markt, die weisen Männer, die darüber diskutierten, was das Schöne und das Gute sei. Stell dir vor, ein Volk, in dessen Leben die Freude Platz hat. Dann ist das Volk verschwunden, und es sind Leute übriggeblieben, die Griechisch sprechen, was nicht das gleiche ist.
    Was meinst du,
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