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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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Welt. Wir fuhren mit dem Wagen. Die Bäume waren voller gelber Früchte, die Luft war dunstig und duftend wie in einem Garten, wenn die Pflanzen zu welken beginnen. Die Menschen waren reich und sorglos, sie summten, brummten und schwammen wie dicke Wespen durch die warme, schwere Luft. Amerikaner und libellenhafte Französinnen und vorsichtige Engländer sonnten sich hier in der nach Apfelsaft riechenden Wärme. Damals war die Welt noch nicht mit Brettern vernagelt, noch stand alles in hellstem Licht, das Leben, Europa. Doch in dem Ganzen war auch eine wilde Hast, eine Gier. Die Menschen kennen ihr Schicksal. Wir wohnten im besten Hotel, gingen zum Pferderennen, in die Konzerte. Wir hatten zwei Zimmer nebeneinander, mit Aussicht auf die Berge …
    Was lauerte hinter diesen sechs Wochen? Welche Erwartungen? Welche Hoffnungen? Um uns herum war es sehr still. Mein Mann hatte Bücher mitgebracht, er hatte das absolute literarische Gehör, konnte die falschen Töne von den richtigen unterscheiden wie Lázár oder wie ein großer Musiker. Wir saßen in der Abenddämmerung auf dem Balkon, ich las ihm französische Gedichte vor oder englische Romane oder gewichtige deutsche Prosa, Goethe etwa oder ein paar Szenen aus dem Florian Geyer von Gerhart Hauptmann. Dieses Stück hatte er sehr gern. Er hatte es in Berlin auf der Bühne gesehen und sich seither immer daran erinnert. Auch Büchners Danton und den Hamlet und Richard III . Auch Gedichte von János Arany hörte er gern, das Őszikék . Dann kleideten wir uns für den Abend um, gingen in die großen Restaurants zum Essen, tranken süße italienische Weine und aßen Hummer.
    Ein bißchen lebten wir wie Neureiche, die alles, was sie bis dahin verpaßt haben, auf einmal nachholen und kosten wollen, Beethoven hören und dazu an Kapaunen knabbern und Champagner trinken. Ein bißchen lebten wir auch wie Leute, die voneinander Abschied nehmen. Es waren die letzten Jahre vor dem Krieg, und sie waren erfüllt von einer unbewußten Abschiedsstimmung. Mein Mann sagte es so, und ich hörte ihm schweigend zu. Ich nahm nicht von Europa Abschied – wir wollen uns ja nichts vormachen und unter Frauen zugeben, daß wir zu solchen Begriffen keine rechte Beziehung haben –, sondern von einem Gefühl, von dem ich mich ganz innen noch immer nicht losreißen konnte, denn mir fehlte die Kraft dazu. Manchmal erstickte ich fast an meiner Hilflosigkeit.
    Eines Nachts saßen wir auf dem Balkon unseres Hotelzimmers. Auf dem Tisch eine Glasplatte mit Trauben und großen gelben Äpfeln, denn in Meran war die Zeit der Apfelernte. Die Luft roch so süß nach Früchten, als hätte jemand ein riesiges Einmachglas geöffnet. Unten spielte ein französisches Orchester alte italienische Opernarien. Mein Mann ließ Wein kommen – Lacrimae Christi  –, dunkelbraun stand er in einer Kristallkaraffe auf dem Tisch. In alldem, auch in der Musik, war etwas Zuckriges, Überreifes, leicht Betäubendes.
    Mein Mann spürte es, und er sagte: »Morgen fahren wir nach Hause.«
    »Ja«, sagte ich, »fahren wir.«
    Auf einmal sagte er mit seiner einsamen, tiefen Stimme, die mich immer anrührte, als wäre sie das düstere Instrument eines primitiven Stammes: »Sag, Ilonka, was soll danach werden?«
    Ob ich wußte, wovon er redete? Von unserem Leben. Die Nacht war klar, ich sah zu den Sternen, den herbstlichen Sternen des italienischen Himmels, und mich schauderte es. Ich fühlte, daß der Augenblick gekommen war, in dem keine Kraftanstrengung mehr half, in dem die Wahrheit ans Licht mußte.
    Ich bekam kalte Hände und Füße, gleichzeitig schwitzte ich vor Aufregung und hatte nasse Handflächen. Ich sagte: »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Ich mag dich nicht verlassen. Ich kann mir das Leben ohne dich nicht vorstellen.«
    »Ich weiß, das ist sehr schwer«, sagte er ruhig. »Ich verlange es auch gar nicht von dir. Vielleicht ist die Zeit dafür noch nicht gekommen. Vielleicht kommt sie nie. Doch in unserem Zusammenleben, auch in dieser Reise, ist etwas Demütigendes und Beschämendes. Haben wir nicht den Mut, einander zu sagen, was zwischen uns nicht geht?«
    Endlich hatte er es ausgesprochen. Ich schloß die Augen, mir war schwindlig. Ich schwieg, ohne die Augen zu öffnen. Schließlich sagte ich: »Dann sag doch endlich, was zwischen uns nicht geht.«
    Er dachte lange nach. Zündete sich eine Zigarette nach der anderen an. Starke englische Zigaretten, mit Opium im Tabak, von deren Rauch es mir immer ein
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