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Walter Ulbricht (German Edition)

Walter Ulbricht (German Edition)

Titel: Walter Ulbricht (German Edition)
Autoren: Egon Krenz (Hrsg.)
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mich nie mit dem unter Genossen üblichen »Du« ansprach. Er hat mich immer gesiezt. Ich hätte es auch nicht fertiggebracht, ihn mit »Du« anzusprechen. Bei Prof. Wittbrodt ging es mir ähnlich. Viele sagten »Helga« zu ihr. Ich konnte das nicht. Mein Respekt war zu groß.
    Woran hast du gemerkt, dass es so etwas wie seelische Nähe gab?
    Üblicherweise fuhr ich im Begleitfahrzeug des Staatsratsvorsitzenden mit. Doch hin und wieder sagte er: »Genosse Fuckel, steigen Sie bei mir ein.« Und dann setzte ich mich neben ihn in den Tschaika. Ich wusste doch, unter welchem Druck er stand, spürte aus Details diese großen politischen Spannungen, denen er ausgesetzt war, und mich erstaunte, wie er das scheinbar ungerührt alles wegsteckte. Nur manchmal brach es aus ihm heraus, kein Mensch kann alles folgenlos in sich reinfressen.
    Ich habe mich manchmal gefragt: Wieso kommt keiner aus der Nachbarschaft und schaut mal nach ihm? Nicht einer kam vorbei, nicht einer. Da fängt man selbst als Außenstehender an zu grübeln. Und später erlebte ich zwangsläufig, wie er abgeschoben und kaltgestellt wurde. Einmal war Breshnew mit Honecker in der Schorfheide zum Jagen. Ulbricht zog sich seine Jägerkluft an, obwohl er kein Jäger war wie die anderen, und wir fuhren zum Schloss Hubertusstock, wo doppelt Aufregung herrschte: Erstens war Breshnews Fahrzeug aufgrund eines Kurzschlosses ausgebrannt, und zweitens weil Ulbricht auf der Bildfläche erschien.
    Solche offensichtlichen Zurückweisungen erlebte ich mehrere Male. Auch als Castro 1972 im Hotel »Neptun« abgestiegen war und er Lotte und Walter Ulbricht, wir waren in Dierhagen, zu sich einlud, nachdem sie mit der Staatsjacht am Vortag auf See waren. Hotelchef Wenzel musste die beiden Ulbrichts auf Weisung von Lamberz im Foyer abwimmeln. In Dierhagen war er, glaube ich, vier Wochen. Er hat sich dort in seine Sandburg gelegt oder schwamm draußen. Er war ein guter Schwimmer.
    Wie reagierte er auf solche offensichtlichen Zurückweisungen?
    Also, er hat sich nie über konkrete Personen geäußert, schon gar nicht abfällig. Seinen Unmut merkte man an seinem Blutdruck. Ich entsinne mich der Politbürositzung am 26. Oktober 1971. Er kam mit hochrotem Kopf aus dem Raum, sein Blutdruck war derart hoch, dass mit dem Schlimmsten zu rechnen war. Offenkundig musste es eine harte Auseinandersetzung gegeben haben, die ihn derart aufgebracht hatte. Später fragte ich ihn, und ich räume ein, dass ich mich da etwas unzulässig vorwagte: »Genosse Ulbricht, ich dachte, zwischen Ihnen und dem Genossen Honecker bestünde so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis?« Darauf antwortete er nur kurz: »Das habe ich auch gedacht.« Damit war das Gespräch beendet.
    Nur einmal reagierte er sichtlich verärgert in der Öffentlichkeit: Wir waren zur agra 9 in Markkleeberg. Der Genosse, der den Rundgang anführte und alles mit uns machte und erklärte, nahm fortgesetzt Bezug zu einem Plenum, das kurz zuvor stattgefunden hatte, und zitierte nun wiederholt den Ersten Sekretär, als habe dieser das Fahrrad neu erfunden. Irgendwann brach es aus Ulbricht heraus: »Hören Sie auf, es gab auch schon früher ZK-Tagungen!« Das war das einzige Mal, dass ich ihn richtig laut erlebte.
    Du bist auch mit ihm spazieren gegangen?
    Ja, sicher. Nach jenen vier Wochen, in denen er das Bett hüten musste wegen der Herzschwäche, war er wieder mobil. Wir schlenderten durch Wandlitz und machten dann mitunter Pause auf einer Bank. Er erzählte von seiner Wanderschaft als Tischlergeselle und wie er sich damals die Füße mit Hirschfett eingerieben habe, um sich nicht Blasen zu laufen. Wir teilten uns einen Apfel und plauderten über Persönliches. Politische Themen waren die Ausnahme. Ich entsinne mich, wahrscheinlich weil Arzt bin, daran, wie er sich maßlos aufregte, dass im RGW entschieden worden war, bestimmte Arzneimittelproduktion aus der DDR an Ungarn und die Tschechoslowakei abzugeben. Wir verlören dadurch Millionen an Valuta-Erlösen, sagte er kopfschüttelnd.
    War er ein wehleidiger Patient?
    Überhaupt nicht. Es gab kein Murren. Als Arzt war man sein Chef, er tat, was man ihm sagte, er war sehr diszipliniert. Aber als er danieder lag, wäre die wirksamste Medizin gewesen, wenn jemand aus dem Politbüro einmal zu Besuch gekommen wäre. Es gab nicht einmal einen Anruf. Es war, als wäre er bereits gestorben. Das war bitter. Und er schwieg dazu tapfer. 10
    Aber: Selbst als er im Krankenbett lag, hat er sich immer
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