Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wahnsinn

Titel: Wahnsinn
Autoren: Jack Ketchum
Vom Netzwerk:
war.
    Eine braune Waldspinne lief über den linken Handrücken des Jungen und krabbelte auf sein Handgelenk zu.
    Er wusste, dass die Spinne ziemlich schmerzhaft beißen konnte, aber vor etwas so Winzigem hatte er keine Angst.
    Vor manchen Menschen schon, ja.
    Aber nicht vor Spinnen.
    Obwohl er Spinnen ekelhaft fand.
    Aber er konnte nicht riskieren, nach ihr zu schlagen. Sie könnten ihn hören. Stattdessen streckte er langsam die rechte Hand aus und zerquetschte ihren Körper an seinem Handgelenk. Die Spinne wurde feucht und klebrig. Er rieb die Stelle, bis das Feuchte trocken war und nur das klebrige Zeug zurückblieb.
    Das war nochmal gutgegangen. Die Spinne hatte ihn nicht gebissen.
    »Es spielt keine Rolle, was mein Mann zu dem Thema zu sagen hat«, sagte seine Mutter. »Der Junge hat in seinem ganzen Leben noch kein Sonntagsessen versäumt. Er würde es auch nicht wagen, eins auszulassen. Niemals. Irgendwas stimmt hier nicht. Du und ich, Ralph Duggan, wir werden gemeinsam nach dem Jungen suchen. Jetzt geh rüber zu dem Wagen da und gib eine anständige Vermisstenmeldung raus, oder muss ich erst ins Haus gehen und die Schrotflinte holen. Wie wär’s damit?«
    »Ruth, wissen Sie eigentlich, was Sie tun? Sie drohen einem Polizeibeamten.«
    »Du willst mich also verhaften. Na schön. Mach nur. Aber erst, nachdem wir Arthur gefunden haben.«
    »Jungs lassen sich schnell ablenken.«
    Er konnte hören, wie der Polizist sich unbehaglich auf der Treppe hin und her bewegte.
    »Und ich muss ein Feuer bekämpfen.«
    »Und woher weißt du, dass er nicht mittendrin ist?«
    »Was?«
    »In deinem verfluchten Feuer, Ralph. Woher weißt du, dass er nicht verletzt inmitten des verdammten Feuers da draußen liegt? Mein Arthur hatte mit drei Jahren Asthma. Ohnmachtsanfälle. Was, wenn er einen Rückfall oder so was hat?«
    »Himmel, Ruth.«
    Der Junge lächelte. Seine Mutter würde gewinnen.
    Seine Mutter gewann immer.
    Das Beste war, dass sie dieselbe Erklärung benutzte, die auch er hatte benutzen wollen – die Ohnmachtsanfälle. Jetzt wusste er, dass er damit durchkommen würde. Das würde ihnen Angst einjagen. Er wusste nicht, warum er ihnen Angst einjagen wollte, aber er wollte es einfach. Seine Mutter würde eine echt große Sache daraus machen und er würde morgen nicht zur Schule gehen müssen und übermorgen und den Tag danach vielleicht auch nicht. Vielleicht würden sie sogar einen Doktor holen.
    »Also schön, Ruth«, sagte Duggan. »Sie haben gewonnen. Sie und Harry steigen hinten ein. Ich denke, wir fangen so nah wie möglich beim Feuer an und arbeiten uns dann wieder zum Haus vor. Ist allerdings nicht mehr besonders hell.«
    »Und du gibst die Suchmeldung durch.«
    »Ja, Ruth. Ich geb die Suchmeldung durch.«
    Er hörte, wie sie die Treppe hinuntergingen, hörte Autotüren aufgehen und wieder zuschlagen und wie der Motor des Polizeiautos startete und der Wagen davonfuhr. Dann waren da nur noch die vertraute Stille, die Grillen und Frösche am anderen Ende der Straße beim Biberteich jenseits des Hügels.
    Er kroch unter der Treppe hervor und setzte sich mit über den Beinen verschränkten Armen ins Gras. Niemand würde ihn hier entdecken. Er fühlte sich unsichtbar, als wäre er nicht in derselben Welt wie alle anderen, als wäre er gar nicht da.
    Er schnupperte an seinem Hemd.
    Das Hemd roch noch nach Rauch. Genau wie seine Jeans. Nach Rauch und Dreck.
    Er fragte sich, ob seine Sachen immer noch nach Rauch riechen würden, wenn sie zurückkamen, und ob seine Mom es bemerken würde.
    Es war gut möglich, dass sie ihm auf die Schliche kamen.
    Bei dem Gedanken durchfuhr ihn die Furcht wie ein greller Blitz. Die Erkenntnis, dass er in Gefahr schwebte, war fast dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er die Streichhölzer an das Gebüsch gehalten, sich hingekauert und zugesehen hatte, wie das Feuer langsam von den Sträuchern auf die Bäume und auf weitere Sträucher übergriff, während er den Rauch gerochen und den Knisterlauten gelauscht hatte.
    Schließlich hatte ihn dieses Gefühl überwältigt, so dass er davonrennen und sich verstecken wollte.
    Es hatte sich fast wie Freude angefühlt.
    Er war ein schlechter Mensch.
    Und jetzt war er unsichtbar.
    Und niemand würde je irgendetwas davon erfahren. Er würde dasitzen, bis seine Sinne ihm befahlen, sich wieder zu verstecken, dann würde er wieder unter die Veranda robben und den Sorgen seiner Mutter und dem Schweigen seines Vaters im Haus lauschen, bis er wieder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher