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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn
Autoren: Jack Ketchum
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durchgemacht hatte und immer noch durchmachte, schien auf der Reporterin zu lasten wie ein unsichtbares, tonnenschweres Gewicht. Es bedrückte sie, als wäre es ihre persönliche Angelegenheit.
    Was hätte ich an ihrer Stelle getan?, dachte sie. Was hätte irgendeine andere Frau in ihrer Lage getan?
    Die Reporterin hatte Roberts Videoband gesehen und wusste, dass er über seinen Vater die Wahrheit sagte. Das Band hatte sie vollkommen überzeugt.
    Lydia Danse war durchs Feuer gegangen – und dieses Feuer brannte immer noch.
    Plötzlich schämte sie sich dafür, diesen Ort einfach so verlassen zu können. Dafür, in Freiheit leben zu dürfen, während diese Frau, die sie für viel stärker und mutiger hielt als sich selbst, ihrer Freiheit beraubt war – und das wahrscheinlich noch für eine sehr lange Zeit. Und dafür, dass sie in einer Welt lebte, die sie hierhergebracht hatte. Fünfzehn Jahre. Ihr fehlten die Worte.

    Wenn bis dahin nicht etwas Entscheidendes geschah, würde Lydia Danse eine alte Frau sein.
    Mein Gott.
    »Wie … ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll … Herrgott! Wie können Sie damit nur leben? Wie können Sie das nur ertragen! «
    Sie sah, wie Lydia sich auf dem harten Metallstuhl aufrichtete.
    »Robert ist jetzt bei Ruth«, sagte sie. »Er ist bei seiner Großmutter. Bei derselben Frau, die seinen Vater großgezogen hat. Die gegen das Gesetz verstoßen hat, als sie Arthur bei sich wohnen ließ. Aus irgendeinem wahnsinnigen Grund kam das Gericht zu dem Schluss, Arthur hätte sie dazu gezwungen. Deshalb hat es das Sorgerecht lieber ihr zugesprochen als meiner Schwester Barbara. Vor allem weil Barbara Single ist. Wir haben dagegen Widerspruch eingelegt. Mir gefällt das natürlich überhaupt nicht, aber darauf kommt es nicht an. Es kommt vor allem darauf an, dass sämtliche Männer in dieser Familie tot sind. Dass keiner mehr mit Schusswaffen hantiert oder andere damit bedroht. Es kommt darauf an, dass Robert nicht mehr von seinem Vater missbraucht wird, dass er jetzt in Sicherheit ist. Das ist das einzig Gute, was … bei alldem herausgekommen ist. Sonst würde ich hier wahrscheinlich durchdrehen. Wenigstens das ist mir geblieben: Die Gewissheit, dass er in Sicherheit ist.«
    Selbst die Wachbeamtin sah sie jetzt ganz offen und mit stoischer Anteilnahme an.
    »Das kann mir keiner nehmen«, sagte sie.
    Die Reporterin ertappte sich dabei, dass es ihr erneut die Sprache verschlug.
    Irgendwie ist sie durchs Raster gefallen, dachte sie. Noch jemand, den das System nicht schützen konnte. Doch diese Frau war tiefer und härter gefallen, als alle anderen, denen sie begegnet war … Aber sieh sie dir an, dachte sie. Sie lässt sich von alledem nicht unterkriegen. Klar will sie hier raus. Um jeden Preis. Trotzdem hatte der Stumpfsinn der grauen Mauern, Gitterstäbe und leerer Blicke sie ebenso wenig lebendig begraben wie die Monotonie des Gefängnisalltags. Etwas, das außerhalb dieser Mauern weiter bestand, im Leib und Leben ihres Sohnes, und das dort – mit oder ohne ihr Zutun – weiter heranwuchs, hielt sie am Leben.
    Was für eine Verschwendung. Was für ein Scheißverbrechen.
    Die Reporterin konnte an dieser Frau verzweifeln und zugleich mit ihr fühlen. Sie wusste, dass sich ihre Gefühle in wenigen Wochen in einen ebenso zornigen wie kaltblütigen Artikel für die Leser eines großen nationalen Magazins niederschlagen würden. Aber Lydia Danse selbst verzweifelte nicht.
    Sie hat richtig gehandelt, dachte die Reporterin. Und das weiß sie auch. Was auch immer irgendwer sonst denken mag.
    Darin lag Größe.
    Und Anstand.
    Der Reporterin wurde klar, dass Lydia Danse ihr tief in die fassungslosen Augen blickte. Im selben Moment wusste sie, dass das Interview nun vorbei war.

    Ruth beobachtete ihn von ihrem Sessel vor dem Fernseher aus. Er saß am Esszimmertisch und machte seine Hausaufgaben. Radierte irgendwas mit seinem Bleistiftende.
    Nicht aufgeben, dachte sie. So ist’s richtig. Nur nicht aufgeben.
    In dem Jahr, das vergangen war, seit all das geschah, war er größer geworden – größer und magerer. Sie fand, die Magerkeit stand ihm genauso gut zu Gesicht wie sie Arthur in diesem Alter gestanden hatte. Deshalb schimpfte sie auch nicht mit ihm, wenn er beim Essen seinen Teller nicht ganz leerte. Solange er überhaupt etwas aß, war sie zufrieden.
    Eigentlich machte er ihr in letzter Zeit überhaupt keinen Ärger mehr. Gut, er war immer noch zu still, stieß manchmal, wenn er
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