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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn
Autoren: Jack Ketchum
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Licht durch die Spalten in den fensterlosen Wänden wurde schwächer und schwächer.
    Sie hatten irgendwas in den Türrahmen geklemmt, ein Stück Holz oder so. Sie konnte die Tür keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Zusammengekauert saß sie gegen die schwitzende, glitschige Wand gelehnt, roch den feuchten Lehmboden und den vollen Moschusgeruch ihrer Tränen und dachte: Keiner wird mich finden.
    Sie stellte sich vor, wie sie irgendwo da draußen im Sumpf – gut möglich, dass sie inzwischen schon eine halbe Meile entfernt waren – durch flaches, schwarzes Wasser und Morast stapften, der einem die Gummistiefel von den Füßen ziehen konnte, und mit ihren zweizackigen Metallspießen nach Fröschen stachen. Jimmy hatte bestimmt schon ein paar beisammen, die jetzt tot oder sterbend in seinem Eimer lagen. Billy war nicht so schnell wie Jimmy und deshalb womöglich leer ausgegangen.
    Das musst du dir ansehen, hatten sie gesagt. Das ist cool. Die alte Blockhütte lag irgendwo am Ende der Welt. Ihr Daddy nannte so etwas ein scheußliches Bauwerk. Seit Jahren schon versank die Hütte langsam im Sumpf, und für Jagdausflüge wurde sie schon lange nicht mehr benutzt.
    Liddy war erst sieben.
    Sie hatte nicht reingehen wollen.
    Die Jungen, Jimmy und Billy, waren neun und zehn. Warum hatte sie also als Erste reingehen sollen?
    Warum immer sie ?
    Das hatte sie sich insgeheim gedacht, war dann aber doch durch die offen stehende Tür gegangen. Schließlich durfte sie die Jungs nicht merken lassen, dass sie Angst hatte. Auch nicht, als Jimmy sie reinschubste und lauthals zu lachen anfing und einer von beiden die Tür zuhielt und der andere irgendwas zwischen Tür und Rahmen stopfte. Sie saß in der Falle.
    Sie hämmerte gegen die Tür. Schrie. Weinte.
    Sie hörte die beiden draußen lachen, dann wie sie durchs Wasser stapften.
    Dann hörte sie lange nichts mehr.
    Sie kauerte neben der Tür, starrte auf den Erdboden und fragte sich, ob es hier Schlangen gab und wenn ja, ob sie wohl nachts in die Hütte kriechen würden.
    Es musste inzwischen Zeit zum Abendessen sein.
    Daddy würde wieder wütend sein.
    Mom würde sich Sorgen machen.
    »Na los. Bitte« , sagte sie zu niemand Bestimmtem. »Lasst mich raus. Bittebittebitte!«
    Was nur zur Folge hatte, dass sie wieder zu weinen anfing.
    Die Jungs redeten ständig über das, was hier passiert ist. Sie redeten über nichts anderes. Jeder wusste es.
    Mörder waren hier gewesen. Ausgebrochene Irre, die Sachen mit Kindern gemacht hatten.
    Vor allem mit kleinen Kindern.
    Liddy hasste Billy und Jimmy.
    Sie wünschte, sie wären tot. Dann wünschte sie sich, sie wäre tot.
    Weil sie wieder nicht gehorcht hatte.
    Sie hätte niemals mitgehen dürfen.
    Mom und Daddy hatten sie vor diesem Ort gewarnt. Du wirst mir unter gar keinen Umständen dorthin gehen, hatte ihre Mom gesagt.
    Aber es gab nicht viele Kinder in der Gegend und überhaupt keine Mädchen zum Spielen und irgendjemanden musste man doch haben. Und manchmal waren Billy und Jimmy ja auch nett zu ihr. Manchmal überstand sie einen ganzen Tag, ohne herumgeschubst, gekniffen oder geschlagen zu werden.
    Als wäre sie wirklich die Schwester von irgendjemandem.
    Also war sie mitgekommen. Obwohl sie gewusst hatte, dass wahrscheinlich irgendetwas schieflaufen würde. Obwohl sie den Jungs vollkommen vertrauen musste, auch was den Weg hier herauf anging, weil der Pfad weitab vom Schuss lag und sie diesen Abschnitt des Waldes noch nie zuvor gesehen hatte.
    Es war, als hätte sie sich … verirrt.
    Selbst wenn sie aus dieser Hütte rauskam, wusste sie nicht genau, wie sie wieder nach Hause zurückfand.
    Wenn Sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie bestimmt verrückt werden.
    Es gab da diese Geschichte, die Jimmy immer über den Sumpf erzählte.
    Er sagte, dass sein älterer Bruder Mike vor langer Zeit mal allein hier oben gewesen war und dass er etwas im Wasser gesehen hatte. Dass es zuerst wie ein Stück Holz ausgesehen hatte, aber als Mike näher rankam, hatte er bemerkt, dass es ein Mann war, ein Toter, dessen halbes Gesicht weggehackt war – es war vollständig und vollkommen sauber vom Scheitel bis zum Kinn abgetrennt, so dass ein geöffnetes Auge ihn anstarrte und das andere einfach nicht mehr da war. Die Nase war genau in der Mitte gespalten und der halbe Mund stand zu einem riesengroßen O geformt offen, so dass der Mann, wie Mike erzählte, in erster Linie überrascht aussah. In seinem Hinterkopf konnte er ein Durcheinander
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