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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn
Autoren: Jack Ketchum
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von Gehirn, Blut und Knochen erkennen. Er rannte sofort zur Polizei und kehrte mit den Beamten eine Stunde später zu der Stelle zurück, aber der Mann war nicht mehr da. Der Mann war verschwunden. Sie hatten überall nach ihm gesucht.
    Jimmy war ein Lügner, genau wie sein großer Bruder Mike, aber Jimmy erzählte ständig, dass der Mann jetzt hier herumspukte. Dass man ihn nachts durch seinen halben Mund stöhnen und durch seine halbe Nase schwer atmen hören konnte, während er sich durch das schmutzige, mit Schlangen, Fröschen und Blutegeln verseuchte Wasser schleppte.
    Aber das war bloß eine Geschichte.
    Trotzdem – wenn sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie verrückt werden. Sie zitterte am ganzen Leib.
    Es wurde dunkel.
    »Mommy«, flüsterte sie.
    Sie hörte Schritte. Jemand watete durch den Morast. Kam auf sie zu.
    »Mommy« , sagte sie,
    Sie dachte an den toten Mann.
    Sie rief nicht Hilfe, sondern Mommy.
    Ihr langer, brauner Pferdeschwanz blieb am rauen, verwitterten Holz hängen, als sie von der Tür wegrutschte. Ihre Kopfhaut brannte, als sich ein Haarbüschel löste. Sie sprang auf und rannte zu der am weitesten entfernten Wand. Sie spürte, wie winzige Splitter des alten, verfaulten Holzes in ihre Handflächen stachen. Trotzdem presste sie ihren Rücken dagegen und beobachtete die Tür.
    »Nur zu«, sagte Jimmy. »Ruf nach deiner Mommy. «
    Dann stieß er die Tür auf. Die Scharniere kreischten.
    »Du Mädchen! «
    Er rannte los. Billy folgte ihm auf dem Fuß.
    »Wartet!«, rief sie. Sie lief hinter ihnen her.
    Ihre Gummistiefel sanken in den Morast, Schlamm bespritzte ihre nackten Beine und ihre Shorts. Tapfer kämpfte sie sich voran. Aber sie war nicht so schnell wie die beiden. Nicht mal annähernd.
    Als sie den Sumpf hinter sich gelassen hatte, waren sie schon den Hügel hinauf und zwischen den Bäumen verschwunden.
    Als sie auf dem Hügel angekommen war, konnte sie die Jungs nirgendwo mehr sehen.
    Sie war wieder allein.
    Der Abend war angebrochen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis es dunkel wurde. Durch die dichten Bäume und Sträucher schien schon jetzt kaum noch Licht.
    Welche Richtung?
    Sie dachte, dass sie vielleicht …
    Sie lief von einer Hügelkuppe zur nächsten. Und wieder zur nächsten. Sie hatte Angst und weinte. Jeder Hügel sah aus wie der vorherige und keiner kam ihr bekannt vor. Nur Gebüsch, Grünzeug, fahlweiße Birken und dichtes, gemeines Dornengestrüpp. Sie lief, so schnell sie konnte. Lief gegen die Zeit und die Dunkelheit an.
    Sie stolperte, fiel, schrammte sich an einem Felsen die Knie auf und spürte, wie ihr Musikantenknochen kribbelte und taub wurde, nur um anschließend wieder furchtbar wehzutun und zu pulsieren. Sie spürte die Holzsplitter tiefer in ihre Handfläche eindringen. Sekunden später stolperte sie wieder, diesmal über einen halb unter Laub verborgenen Ast, und fiel auf die Seite.
    Auf den Pfad.
    Auf gut ausgetretene, festgestampfte Erde.
    Und jetzt erkannte sie auch den großen Felsen, den mit Katzengold drin. Er lag genau vor ihr und war mit Katzengold gesprenkelt. Jimmy hatte auf dem Hinweg obendrauf gestanden.
    Ja!
    Jetzt musste sie doch nicht hier draußen sterben, würde nicht verhungern oder von Verrückten umgebracht oder von Schlangen gebissen werden. Sie würde auch nicht den rasselnden Geisteratem des Mannes mit dem gespaltenen Schädel hören. Sie würde es nach Hause schaffen.
    Tränen strömten über ihre schlammbedeckten Wangen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sich ein Mensch gleichzeitig so gut und so schlecht fühlen konnte. Ihr Herz hämmerte vor Erleichterung.
    Sie hatte es nach Hause geschafft.

    Ihr Vater erwartete sie auf der Veranda. Er trank ein Bier, trug noch das Hemd, das er in der Bank angehabt hatte, saß in seinem Schaukelstuhl und hörte zu, wie sie ihm alles zu erklären versuchte.
    Ihre Mutter stand in der Tür hinter dem Fliegengitter. Sie beobachtete sie, während sie die Hände ruhig über ihren aufgetriebenen Bauch gelegt hatte. Ihre Mutter war im achten Monat schwanger.
    Als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, stellte ihr Vater sein Bier ab, stand auf, ging zu ihr hinüber und blieb am äußersten Rand der Veranda stehen.
    »Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist doch sonst so schlau. Wo hast du deinen Verstand gelassen, Lydia? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie zupfte an den Holzsplittern. Die Hand tat ihr weh. Das Knie tat
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