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Wahn

Wahn

Titel: Wahn
Autoren: Christof Kessler
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Ihnen noch alle Befunde zu besprechen. Ist alles in Ordnung? Für mich ist die Frage am Wichtigsten, ob ich gefährdet bin, an Alzheimer zu erkranken oder nicht.« Ich erläuterte die Befunde. An den Halsschlagadern hatten sich leichte Verkalkungsherde gezeigt, die jedoch nicht besorgniserregend waren. Die MRT-Aufnahmen des Kopfes waren völlig normal ausgefallen, auch die Hirnströme. Ebenso war die Untersuchung des Nervenwassers normal. Die Eiweißstoffe, die für eine Alzheimer-Demenz sprechen würden, waren nicht nachweisbar, beziehungsweise in normaler Konzentration vorhanden. Also konnte ich die Frischvermählten beruhigen. Nichts sprach zum jetzigen Zeitpunkt dafür, dass eine Demenz vorlag. Im weiteren Gespräch erfuhr ich, dass die Erinnerungslücke für die Zeit zwischen dem Brötchenholen und der Einweisung in unsere Klinik nach wie vor bestand.
    »Bevor wir nach Bornholm gesegelt sind, haben wir erst einmal in Sassnitz auf Rügen Station gemacht«, erzählte Gudrun, »dort ist etwas Rätselhaftes passiert. Als wir eines Abends von einem Essen wieder auf das Schiff gingen, hatten wir das Gefühl, dass jemand an Bord gewesen ist, unsere Sachen waren zwar ordentlich, trotzdem gab es Hinweise darauf, dass die Koffer und Spinde durchsucht worden sind.«
    »Ich glaube, die haben das hier gesucht«, sagte Michael Bornmeister triumphierend und hielt den Schlüssel hoch, den er uns kurz bei seinem ersten Aufenthalt in unserer Klinik gezeigt hatte. »Vielen Dank, dass Sie mich damals nicht bei der Polizei verpfiffen haben, das ist immerhin der einzige Hinweis darauf, was in dieser Zeit geschehen ist. Das ist der Schlüssel, um meine Gedächtnislücke zu füllen.«
    »Herr Professor, das ist wie eine fixe Idee bei meinem Mann«, sagte Gudrun, sie gebrauchte den Ausdruck »mein Mann« mit einem gewissen Stolz. »Er kann sich doch denken, wie gefährlich es ist, da weiterzubohren. Der Mann, den sie gefasst haben, der Fahrer, war offensichtlich Mitglied einer osteuropäischen Autoschieberbande. Trotzdem spielt Michael den Geheimagenten. Wo wir auch sind, überall zeigt er den Schlüssel herum und fragt die Menschen aus, wo er wohl hingehören könnte.«
    Ich schaute mir den Schlüssel genauer an: »Für mich ist das ein Tresorschlüssel, wie er für private Safes gebraucht wird. Was vermuten Sie?«
    »Ich kann mir aus dem Ganzen noch keinen Reim machen, möglicherweise haben mich die Gangster mit jemandem verwechselt und mir den Tresorschlüssel untergeschoben, um mich dann zum Safe zu bringen. Dabei wurden wir gefasst. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass der Autodieb, mit dem ich mitgefahren bin, mir den Schlüssel während der Polizeikontrolle zugesteckt hat, damit nicht die ganze Bande auffliegt.«
    »Unsinn«, rief Gudrun aus, »kompletter Unsinn!« Sie sah mich flehentlich an. »Es ist wie eine fixe Idee. Er will rauskriegen, was damals passiert ist, auch wenn er dabei sein Leben riskiert. Sie müssen ihm das ausreden!«
    »Es ist die Ungewissheit. Ein Teil meines Lebens fehlt mir, also mache ich mich auf den Weg, diesen Teil wieder zurückzuholen. Vor allem jetzt, nachdem Sie mir mitgeteilt haben, dass ich nicht meinen Verstand durch eine Demenz verlieren werde, muss ich mir Klarheit verschaffen.« Er deutete noch einmal auf den Tresorschlüssel: »Das ist der Schlüssel zu dem Geheimnis, das ich lösen werde!« Dabei bemerkte ich bei dem stets ruhigen und ausgeglichenen Patienten zum ersten Mal ein fanatisches Glimmen in seinen Augen. Ich erklärte ihm, dass es viele Menschen gebe, die die gleiche Erfahrung einer Erinnerungslücke gemacht hatten wie er und die dennoch nicht so besorgt seien. Ferner empfahl ich beiden, sich den Ermittlungsbehörden anzuvertrauen und die Geschichte mit dem Schlüssel nicht länger zu verheimlichen.
    »Eines ist klar, die Polizei hat versagt, jetzt bin ich gefragt. Ich werde die Bande auffliegen lassen«, er lachte laut. »Damit tue ich nicht nur der Polizei einen Gefallen, sondern auch mir. Ich bin Rentner, und Gudrun wird in ihrem Büro gut vertreten, wir werden noch einige Wochen hier in der Gegend bleiben und als Erstes versuchen, mit einem Mietwagen meinen damaligen Weg von Hiddensee bis zur Polizeikontrolle vor Stralsund zu rekonstruieren.«
    »Ja«, sagte Gudrun. »Ich habe zugestimmt. Ich selber könnte zwar ohne Weiteres mit einer Lücke in meiner Biographie leben, aber Michael kann es offensichtlich nicht, also werden wir noch zwei Wochen dranhängen und gemeinsam
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