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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition)
Autoren: Susanne Gavénis
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sich leicht im Wind bewegten, und ihn das leise Knarren der Äste und Zweige wie eine zärtliche Umarmung willkommen hieß.
    Andion blickte auf. Er hatte sein Ziel beinahe erreicht. Der einzige Freund, den er hier auf dem Grund der Schule besaß, stand direkt vor ihm. Die große, uralte Eiche, deren ausladende Äste Schutz und Schatten spendeten, schien bereits auf ihn gewartet zu haben.
    Wie so oft, wenn er ihren mächtigen Stamm betrachtete, hatte er auch diesmal das Gefühl, als würde ihm aus der rauen Borke ein knorriges, gütiges Gesicht entgegen lächeln, ein Gesicht mit Haaren aus Moos und Augen aus Haselnuss, in deren sanftmütigem Blick die Weisheit der ganzen Welt verborgen lag. Es war nicht immer so deutlich zu erkennen, heute jedoch wirkte es beinahe plastisch, wölbte sich ihm entgegen, als habe es vor, im nächsten Moment gänzlich aus dem Stamm hervorzutreten. Andion wäre nicht überrascht gewesen, hätte sich die Rinde seines Mundes tatsächlich bewegt und wie die Geister des Windes seinen Namen geflüstert.
    Er dachte zurück an Mr. Colegraves Unterricht, an seine Strafarbeit, die der Geschichtslehrer und seine Mitschüler so verächtlich in den Schmutz getreten hatten, und Zorn wallte in ihm auf. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe? Warum lachten sie über Ians Geschichten und verspotteten ihn? Nur weil er sich so verzweifelt nach etwas sehnte, was sein trostloses Leben ein wenig erträglicher machte? Weil er Dinge hörte und sah, die nicht da waren, nicht da sein konnten, die aber trotzdem seine Seele berührten auf eine Weise, wie es ein Mensch niemals vermocht hätte, die ihm Mut zusprachen, wenn er sich einsam und verlassen fühlte, und ihm Hoffnung gaben, wenn Furcht und Verzweiflung ihn zu Boden drückten? Sie sollten sich alle zum Teufel scheren!
    Er atmete tief durch, versuchte die düsteren Gedanken wenigstens für den Augenblick aus seinem Kopf zu verbannen und ließ sich, den Rücken gegen den rauen Stamm der Eiche gelehnt, langsam ins warme Gras gleiten. Seufzend schloss er die Augen. Normalerweise tat er das nicht, wenn er nicht allein war, und Ian hätte ihn wegen seiner Unvorsichtigkeit wohl energisch zurechtgewiesen, doch Andion hatte eines längst gelernt: Wenn er so wie jetzt an einem Baum lehnte, die Augen schloss und sich ganz auf sich selbst konzentrierte, schien er irgendwie der boshaften Aufmerksamkeit der anderen zu entschlüpfen, fast als hätte er einen schützenden Zauber gewoben, in den er sich einhüllte und vor ihnen versteckte. Das war natürlich wieder einmal ein völlig lächerlicher Gedanke, aber er tat gut. Ohne diese kleinen Momente der Entspannung wäre der Schulalltag noch unerträglicher gewesen, als er ohnehin schon war.
    Fast eine Minute lang blieb Andion völlig reglos, im Köper wie im Geist, dann begann er, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten. Er ignorierte die Emotionen seiner Mitschüler, die selbst hier draußen im Freien so deutlich zu spüren waren wie Hitze, die von einem offenen Feuer aufstieg, tauchte durch sie hindurch wie durch die aufgewühlte Oberfläche eines sturmgepeitschten Meeres, bis er die ruhige, tief verwurzelte Weisheit der Eiche fühlte. Sie war wirklich uralt, hatte viel gesehen, viel erduldet, aber auch viel Freude erfahren – das Glück, wenn ihre Samen im Frühling aus der weichen Erde sprossen, den Stolz und die stille Ehrfurcht, wenn die kleinen Nestlinge der Sperlinge und Rotkehlchen und Buchfinken im Schutz ihrer Zweige aus ihren Eiern schlüpften, und das wunderbare Gefühl der Vitalität, wenn ein warmer Sommerregen ihre Äste und die raue Haut ihres Stammes benetzte oder der Herbstwind rauschend durch ihre Blätter fuhr.
    Beinahe hätte Andion gelächelt – ein echtes, entspanntes Lächeln, für einen kurzen, kostbaren Augenblick frei von der Dunkelheit, die ihn so sehr quälte -, als sich plötzlich ein neues Gefühl in die sanfte Emanation des Baumes mischte, eine grelle Dissonanz des Schmerzes und der Angst, Angst vor Stahl, der in Rinde und lebendes Gewebe schnitt, Wunden riss, zerstörte.
    Andion fuhr mit einem Keuchen auf, die Augen vor Entsetzen geweitet; Adrenalin rauschte heiß durch seinen Körper, ließ sein Herz hart gegen seine Rippen wummern, spannte seine Muskeln wie bei einem Tiger, der plötzlich einem Jäger und seinem Gewehr gegenübersteht. Er sah sofort, warum der Baum schrie. Drei Jungen standen auf der anderen Seite des Stammes - sie hatten ihn offenbar noch nicht bemerkt oder aber
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