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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition)
Autoren: Susanne Gavénis
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vergessenen und furchtsam gemiedenen Pfaden dunkler elfischer Magie zugebracht hatte, mehr zu sehen vermochten als die eines jeden anderen Elfen, durchdrangen mühelos das unheimliche Zwielicht der vorzeitig hereingebrochenen Nacht, und als er schließlich die letzten Bäume hinter sich zurückließ und auf die weite, grasbewachsene Lichtung hinaustrat, sah er, was kein anderer vor ihm jemals erblickt hatte.
    Das Herz des Waldes – seine Lebenskraft – lag offen vor ihm. Seine schwarzmagisch veränderten Sinne zerrissen den Schleier, zerrten hervor, was seit Anbeginn der Zeit im Ursprung des Seins verborgen gewesen war, und einen Moment lang stand er reglos da, betrachtete mit unbewegter Miene das Mysterium, das nun, nach all den mühsamen Jahren des Forschens und Suchens, endlich zum Greifen nahe war.
    Ströme silbrigen Lichts flossen über die Lichtung, wogten lautlos und majestätisch wie ein Meer aus Mondstrahlen zwischen den uralten Eichen, Tannen und Erlen, die den Rand der Wiese säumten. Einige der leuchtenden Stränge waren dick wie der Arm eines Mannes, andere so zart und filigran, dass selbst der Flügelschlag einer Blütenfee zu genügen schien, um sie wie Kerzenrauch in einem Wintersturm auseinanderzuwehen.
    Und doch spürte er selbst in ihnen die unbändige Kraft des Lebens, spürte die ungeheure Vitalität und Macht, die in ihrem Silberglanz verborgen lag und jeden Grashalm, jeden Baum und jedes Blatt auf der Lichtung in unwirkliche Helligkeit tauchte. Nun, da er seinen Sinnen gestattete zu sehen , fühlte er die prickelnde Energie, die zusammen mit dem Licht über seine Haut strich, sanft wie ein Frühlingsregen sein Gesicht benetzte und über seine Arme und Beine perlte.
    Hätte er es nicht bereits gewusst, so hätte er spätestens jetzt keinen Zweifel mehr gehabt. Egal ob Blütenfee oder Elf, Dryade oder Regenwurm, hier war der Ort, an dem jegliche Unterschiede ihre Bedeutung verloren. Denn so verschiedenartig sie auch waren, sie alle wurden genährt von der Quelle, dem Zentrum des Lichts, das Ehrfurcht gebietend und erhaben wie ein vom Himmel herabgefallener Stern in der Mitte der Lichtung schwebte. Wie Arterien und Venen, die einem gewaltigen Herzen entsprangen, sprossen die silbrigen Stränge aus der weißglühenden Kugel hervor, Myriaden schimmernder, pulsierender Adern, Nabelschnüre aus Licht, die jedes Lebewesen, von der winzigsten, hirnlosesten Amöbe bis zu den feingeistigen, zartgliedrigen Elfen, vom unscheinbarsten Strauch bis zur mächtigsten Eiche, mit dem Ursprung allen Seins verbanden.
    Auch zu ihm führte ein solcher Strang, doch wo die meisten anderen um ihn herum vor Energie und Vitalität schier zu bersten schienen, war der seine im Verlauf der Jahrhunderte dünner und dünner geworden, war kaum noch mehr als ein zerschlissener, ausgefranster Faden, der schon allzu bald reißen würde.
    Aber natürlich würde er es nicht soweit kommen lassen. Denn mochte sich auch sein eigenes Leben dem Ende entgegenneigen, das seines Sohnes hatte gerade erst begonnen. Er hob den Arm, der den Säugling hielt, betrachtete stumm den winzigen Körper, der sich schwach im stählernen Griff seiner Finger wand – und den starken, schimmernden Strang, der wie ein Strom aus geschmolzenem Silber seiner Brust entsprang und seinen schmächtigen Leib mit der Quelle verband.
    Einen Moment noch stand er reglos, schaute in die weit aufgerissenen Augen seines Sohnes, deren sanftes Frühlingsgrün vor Panik und Entsetzen zum stumpfen, toten Braun verwelkenden Herbstlaubs geronnen war, dann straffte er seine Gestalt. Es war Zeit, das Ritual zu vollenden.
    Innerlich und äußerlich unbewegt schritt Ogaire auf das weiße Licht zu, das im Zentrum der Lichtung erstrahlte, trug den Säugling nun eine Armeslänge von sich fortgestreckt. Die Schreie des Kindes erstickten, als er es im leuchtenden Herz des Lebens versenkte.
    Gleich darauf trat er selbst ins Licht. Seine Lippen begannen sich zu bewegen, die magischen Formeln zu rezitieren, die er in den langen dunklen Jahren seiner Studien eigens für diesen Augenblick ersonnen hatte. Seine Stimme hob und senkte sich, war im einen Moment hoch und schrill wie das triumphierende Kreischen einer Krähe, die mit ihrem Schnabel Fetzen blutigen Fleisches aus dem Kadaver eines verendeten Tieres herausriss, im nächsten tief und bedrohlich wie das hungrige Knurren eines Wolfs, dessen gefletschte Zähne nur noch eine Handbreit von der ungeschützten Kehle seiner Beute entfernt
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