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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition)
Autoren: Susanne Gavénis
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Andion, wie sich seine Kehle vor Furcht zusammenschnürte und sich die Muskeln in seinem Rücken verkrampften, als erwarteten sie, im nächsten Moment vom kalten Stahl einer Messerklinge durchbohrt zu werden. Was vermutlich auch irgendwann passieren würde. Er brauchte nicht in Ians harte, grimmige Augen zu blicken, um genau zu wissen, dass der Mistkerl auch vor seiner Mutter und ihm nicht haltmachen würde; das bleiche, abgehärmte Gesicht seiner Mutter und die bitteren, angsterfüllten Tränen, die sie viel zu oft weinte, waren Beweis genug.
    Hastig schob Andion den Gedanken wieder beiseite. Sich mit dem kranken Hirn seines Erzeugers zu beschäftigen, würde seinen Tag ganz sicher nicht verbessern. Es war ohnehin schwer genug, sich auch nur für wenige Sekunden nicht der Henkerschlinge bewusst zu sein, die nur darauf wartete, sich um seine schutzlose Kehle zusammenzuziehen, nur für ein paar tröstliche Augenblicke nicht daran zu denken, dass er, seine Mutter und sein Vormund seit siebzehn langen Jahren auf der Flucht waren – auf der Flucht vor einem blutrünstigen Monster, das nicht eher ruhen würde, als bis es sie gestellt und seinen schrecklichen Hunger an ihnen gestillt hatte.
    Andion ballte seine Hände zu Fäusten und straffte seine Gestalt. Er musste endlich aufhören, über Dinge nachzugrübeln, an denen er doch nichts ändern konnte, ansonsten würde die Pause vorbei sein, ohne dass er Gelegenheit gefunden hatte, die Löcher, die durch Mr. Colegraves emotionalen und verbalen Dauerbeschuss in die Mauern seiner Selbstbeherrschung gerissen worden waren, zumindest so notdürftig wieder zu stopfen, dass er die nächsten beiden Schulstunden in halbwegs würdevollem Zustand über die Bühne bekam.
    Er atmete tief durch, gab sich einen Ruck und zwang seine verkrampften Muskeln, sich in Bewegung zu setzen, fort von dem wuchtigen Backsteingebäude mit seinen schroffen Kanten und den schmerzhaften rechten Winkeln, dem glühenden Stahl und dem Eisen. Den Balsam, der seine wunde Seele zu heilen vermochte, würde er hier nicht finden.
    Er ging mechanisch, ignorierte die Gruppen der übrigen Schüler, die zusammen mit ihm auf den Hof geströmt waren, sah weder nach links noch nach rechts und hob nur einmal kurz den Blick, um in dem Gewimmel aus Menschenleibern nicht die Orientierung zu verlieren. Was sich sogleich als Fehler herausstellte, denn er fand sich Auge in Auge mit einer der beiden Lehrerinnen, die während der Pause die Aufsicht führten. Ihre Miene erstarrte, und er konnte spüren, wie sie innerlich vor ihm zurückzuckte, wie Ablehnung und instinktive Furcht ihr Wesen erfüllten. Sie brach den Blickkontakt ab, noch bevor er es tun konnte, und stakste mit steifen Schritten in die entgegengesetzte Richtung davon.
    Hastig verankerte Andion seinen Blick wieder am Boden, während sich ein dumpfer, altvertrauter Schmerz in seinen Magen grub. Obwohl er es nun schon so oft erlebt hatte, tat es noch immer weh, brannte die Scham über den Makel, der seine Seele befleckte und so offen für jeden sichtbar war, heiß auf seinen Wangen.
    Letztlich konnte er der Lehrerin nicht einmal einen Vorwurf machen – ebenso wenig wie all den anderen, die ihn anschauten und mit spontanem Ekel und Abscheu reagierten. Außer seinem Vormund Ian gab es niemanden, der ihm in die Augen sehen konnte; kein Mitschüler, kein Lehrer, noch nicht einmal seine Mutter vermochte das. Sie alle wandten sich sofort wieder von ihm ab, erschrocken, verwirrt und voller Furcht, einer instinktiven, atavistischen Furcht, die jegliche Vernunft hinwegfegte und keinen Raum mehr ließ für psychologische Raffinesse oder rhetorische Spitzfindigkeiten, die einen Menschen dazu brachte, sich zitternd wie ein Kaninchen im Angesicht einer Schlange in eine Ecke zu drängen oder mit gefletschten Zähnen anzugreifen wie ein Wolf, dem die Witterung eines bedrohlichen neuen Feindes in die Nase steigt. Vermutlich hätten sie sogar ein wimpernloses Alien mit Insektenaugen und giftgrün lackierter Elvis-Tolle länger ansehen können als ihn.
    Dabei wirkte er auf den ersten Blick durchaus wie ein ganz normaler Teenager. Er hatte keine Narbe, keine Hasenscharte oder irgendeine andere Deformation, die einen ahnungslosen Betrachter schaudernd hätte zurückzucken lassen, und auch sein Gesicht war, wenngleich ein wenig hager, so doch keinesfalls dazu angetan, bei anderen Menschen einen spontanen Würgereflex hervorzurufen. Seine Wangenknochen waren vielleicht etwas höher als
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