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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche
Autoren: Alan Bradley
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Schweigen, bei denen man betet, dass niemandem ein unanständiges Geräusch entfährt.
    »Ach, hier sind Sie, Colonel de Luce!«, brach eine weltberühmte Stimme die Stille, und Desmond Duncan betrat die Bühne mit so schwungvollen und aufmerksamkeitsheischenden Schritten wie sonst auf der Leinwand oder vor dem Publikum im West End. »Dogger sagte mir, dass ich Sie hier finde. Ich habe Ihnen nämlich eine gute Neuigkeit zu überbringen.«
    Er hatte die Ausgabe von Romeo und Julia in der Hand , die er in der Bibliothek eingesteckt hatte.
    »Wie segensreich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen! So oder so ähnlich drückte sich der Apostel Paulus aus und zitierte dabei Jesaja, obwohl er vermutlich von seinen eigenen Füßen sprach, und zwar in seinem Brief an die Römer«, warf der Vikar ein, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
    »Bei diesem unauffälligen Bändchen, das in Ihrer Bibliothek aufgetaucht ist, Colonel, handelt es sich, wenn ich mich nicht irre, um eine der allerersten Quarto-Ausgaben von Shakespeare. Dass sie sehr wertvoll ist, steht außer Frage, und ich würde mich eines schweren Vergehens schuldig machen, wenn ich etwas anderes behauptete.«
    Er betrachtete den Einband, nahm die Brille ab, schaute zu Vater hinüber, setzte die Brille wieder auf und schlug das Buch auf der Titelseite auf.
    »John Danter«, raunte er andächtig und hielt das Buch hoch, damit wir es alle sehen konnten.
    »Verzeihung, aber ich verstehe nicht recht«, sagte Vater.
    Desmond Duncan holte tief Luft.
    »Wenn ich nicht völlig danebenliege, Colonel de Luce, sind Sie im Besitz der ersten Quarto-Ausgabe von Romeo und Julia. Gedruckt im Jahre 1597 von John Danter. Schade nur, dass diese neue Inschrift darin steht. Vielleicht kann man sie ja von einem Fachmann entfernen lassen.«
    »Wie viel?«, wollte Tante Felicity wissen. »Das Buch muss doch ein hübsches Sümmchen wert sein.«
    »Wie viel?« Desmond Duncan lächelte. »Wahrscheinlich ein königliches Sümmchen! Wenn es heute auf einer Auktion versteigert würde … eine Million, vielleicht.«
    Er machte eine Kunstpause, dann fuhr er mit kaum verhohlener Aufregung fort: »Es handelt sich um ein sogenanntes ›Schlechtes Quarto‹. Der Text unterscheidet sich an einigen Stellen deutlich von dem, den man aus heutigen Aufführungen kennt. Man nimmt an, dass er von Shakespeares Schauspielern stammt, die ihre Rollen stets aus dem Gedächtnis abrufen mussten. Daher die Abweichungen.«
    Wie in Trance schob sich Daffy nach vorn, die Hand nach dem Buch ausgestreckt.
    »Wollen Sie damit sagen, dass Shakespeare selbst diesen Band in Händen gehalten haben könnte?«
    »Das ist durchaus möglich. Aber das muss von einem Experten überprüft werden. Sehen Sie: Überall sind diese feinen Tintenkritzeleien zu sehen – sie dürften schon sehr alt sein. Da hat sich mit Sicherheit jemand Anmerkungen gemacht.«
    Daffys Hand zuckte plötzlich zurück, als hätte sie etwas Heißes angefasst.
    »Ich kann nicht!«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht!«
    Doch jetzt griff Vater, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte, nach dem Band. Sein Gesicht war ausdruckslos wie eine aus Stein gemeißelte Maske.
    Aber Desmond war noch nicht fertig.
    »Da ich zu dieser Entdeckung beigetragen habe, zumindest zur Identifizierung eines derartigen Schatzes, finde ich, dass ich ein Wörtchen mitzureden habe, ob und wann Sie sich dazu entschließen …«
    Eisige Stille senkte sich über den Raum, als Vater dem Schauspieler das Buch aus den Händen nahm und es durchblätterte, indem er die Seiten, wie es die meisten Leute machen, von hinten nach vorn an seinem Daumen vorbeifliegen ließ. Jetzt war er am Titelblatt angekommen.
    »Wie gesagt, diese spätere Verschandelung kann ein Fachmann leicht entfernen«, fuhr Desmond Duncan fort. »Ich glaube, die Britische Nationalbibliothek beschäftigt fähige Restauratoren. Sie werden mit dem Ergebnis zufrieden sein.«
    Vaters Gesicht verriet immer noch nichts. Er betrachtete unverwandt das verwobene Monogramm aus seinen eigenen Initialen und denen von Harriet.
    Sein Zeigefinger strich über das Papier, verharrte auf den roten und schwarzen, in Kreuzform angeordneten Buchstaben und fuhr sie noch einmal vorsichtig nach: erst die von Harriet, dann seine eigenen.
    Ich konnte die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, so deutlich hören, als säße ich vor einem Radioapparat. Vater dachte an den Tag, an den Augenblick, an dem diese Initialen in das
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