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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest
Autoren: Saša Stanišic
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Blissau. Das Jahr ist 1935, das Dorf feiert das Annenfest. Das Dorf hat seinen guten Rock angezogen und trägt einen Hut. Bis auf Gustav. Gustav ist acht. Gustavs Topfhaarschnitt sieht aber aus wie ein Hut, das passt dann wieder. Ein Fräulein mit vollem Getränketablett läuft von links in die Postkarte, obwohl alle, außer Gustav, schon Getränke haben.
    Es sind gute Jahre. Wir sind vierhundert mehr als heute. Wir fahren von zwei Bahnhöfen abund mit fünfzehn Automobilen herum. Der Optimismus zeugt Kinder. Gustavs Eltern können sich einen Frisör für Gustav leisten. Sein Vater ist Pfarrer. Seine Mutter Telegraph-Sekretärin. Wir sind städtisch für die Umgebung. Glauben an Arbeit und ans Vaterland, haben Arbeit und Vaterland, tragen Schleifen an den Hüten. Die wohltuende Ahnungslosigkeit. Nach dem Krieg werden wir barfuß herumlaufen.
    Die Hutmode aus der Hauptstadt: sehr kleine Damenhüte auf Löckchen und Wellen. Herren mit weißem Stecktuch in der Brusttasche.
    Ein Himmel aus Kastanienblättern über dem Schützengarten. Gustav sitzt allein am Tisch. Sein Vater wollte, dass er auf das Foto kommt, hat Blissau überreden müssen. Der sieht Kinder ungern zwischen seinen Gästen und seinen Krügen wuseln. Gustav wuselt gern. Er will Geograf werden wie Hans Steffen. Die Nürnberger Gesetze sind sechs Tage alt.Die Tischdecken weiß.
    Das Dorf blickt in die Kamera. Nur das Fräulein starrt auf die Getränke, bitte kein Missgeschick jetzt. Es tut gut, euch wegen des Fotos so unentspannt zu sehen und euch gleichzeitig entspannt zu ahnen.
    Herr Schliebenhönerlöst aus.
    Neben Gustavs Hand landet eine Biene. Glocken läuten. Über den Kastanienblättern scheint die Sonne zu scheinen.
    3. Die Windmühle : Ein schöner Turmbau mit weit ausladenden Flügeln. Vor der Mühle grasen zwei Kühe. In der Vorstellung des Betrachters geht der Wind, kreisen die Flügel. Niemand ist Windmühlen gegenüber gleichgültig. Im Schnitt bemüht sich jeder fünfte bundesdeutsche Mann im Laufe seines Lebens zu verstehen, wie eine Mühle genau funktioniert.
    Heute ist von der Mühle nichts übrig. Die Neubauten hängen dort die Wäsche zum Trocknen auf. Die Mutter vom stummen Suzi ihre Bettwäsche. Das Bunny-Logo flattert im Wind und Regen.
    Windmühlen sind Windmühlen, Wäscheleinen sind Wäscheleinen. Das Dorf sagt nicht: Ach, wenn doch die Mühle dort noch stünde. Die Neubauten freuen sich über die Wäscheleinen im Freien, die Wohnungen sind klein.
    Wir wollen aber über Mühlen sprechen: Vier hat es hier gegeben. Eine wurde 1930 abgerissen, von einer steht noch der Stumpf und wird privat am Wochenende genutzt von einem Hamburger Ehepaar. Die dritte stammt aus dem 16. Jahrhundert. Der Lehnsherr, Poppo von Blankenburg, war mit dem Mehl ganz und gar unzufrieden und jagte einen Müller nach dem anderen fort. Schließlich beschloss er, sich selbst als Müller zu versuchen. Er nahm sich drei Burschen als Gehilfen, quartierte den Priester ein zum Schutz gegen den Teufel, bestellte zudem eine weise Frau, die Mehlwürmer und Mühlgeister zu vertreiben versprach (mit § 109 der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 ließ sich nichtschädigende Zauberei von Schadenszauberei leichthin unterscheiden). Schließlich befahl er, man möge ihm drei Jungfrauen bringen. Wofür die gedacht waren, ist nicht überliefert.
    Das Ergebnis war desolat.
    Der Priester und die weise Frau gerieten erst metaphysisch, dann physisch aneinander, die Burschen entführten die Jungfrauen oder umgekehrt, und als das Dorf nicht länger schlechtes Mehl, sondern bald gar kein Mehl mehr bekam, versammelten sich die Leute vor der Mühle, um anzufragen, was Sache war. Der Graf erschien im Fenster, blass wie Mehl, zitternd und zeternd. Wie solle, schrie er, ein Mensch ankommen gegen eine Mühle, die wie ein Mensch fühle und gerade keine Freude am Mahlen empfinde!
    »Ihr lieb zureden«, rief es von unten, ein Stimmchen im Gezeter. »Lieb zu ihr sein!« Ein Mädchen war dies, die Augen graublau, das Haar kurz und blond. Der Edelmann verstummte, und auch die Bauern, die Heugabeln und ein Fuchs, der gekommen war, um zu gucken, was es hier zum Gucken gab, wunderten sich. Dann aber stimmte das Volk dem Mädchen zu. Vielleicht glaubte es selbst, dass das helfen würde, wahrscheinlich aber wollte es einfach hören, wie ihr Graf die Mühle bezirzte.
    Und der tat’s. Er wandte sich sogleich den Läden zu und lobte sie ausgiebig. Was für hübsche Fensterläden! Offen und
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