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Voodoo

Voodoo

Titel: Voodoo
Autoren: Stone
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ausbrechen würde.
    Er hatte in der Küche nicht genug zu tun, um sich abzulenken. Andauernd starrte er auf die Uhr am Herd und beobachtete, wie sich die schwarzen Zeiger ruckweise auf zwei Uhr zubewegten.
    Im Kopf ging er Sandras Besuch von letzter Woche noch einmal durch. Hatte sie je von einer Migräne erzählt, von Kopfschmerzen oder Schwindel, von Ohnmachtsanfällen oder Nasenbluten? Er sah ihr Gesicht hinter der kugelsicheren Scheibe vor sich, auf dem Glas die geisterhaften Finger- und Lippenabdrücke von einer Million Häftlingen, die ihre Liebsten so fast berührt und fast geküsst hatten. Sie beide hatten das nie gemacht. Es war ihnen sinnlos und jämmerlich vorgekommen – schließlich würden sie einander irgendwann tatsächlich wieder in die Arme nehmen können. Jetzt wünschte er sich, sie hätten es getan. Immer noch besser als das absolute Nichts, das ihm jetzt blieb.
    »Max«, rief Henry, der an der Spüle stand. »Zeit, den Ehemann zu spielen.«
    Wenige Ticker vor zwei Uhr. Max band sich die Schürze los, ganz aufs Stichwort, dann hielt er inne.
    »Sie kommt heut nicht«, sagte er und ließ die Schnüre der Schürze rechts und links runterhängen. Er spürte, wie heiße Tränen in ihm aufstiegen.
    »Wieso nicht?«
    Max antwortete nicht. Henry kam auf ihn zu, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Er blickte Max ins Gesicht und sah die Tränen in seinen Augen. Überrascht trat er einen Schritt zurück. Wie praktisch jeder in dem Laden hielt er Max für einen ziemlich harten Hund – ein Ex-Bulle im normalen Vollzug, der seinen Mann stand und nicht ein einziges Mal davor zurückgeschreckt war, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
    Henry lächelte.
    Vielleicht war es ein spöttisches Lächeln, oder es war die sadistische Freude am Leid anderer, die im Knast mit Glück verwechselt wurde, oder es war einfach Unsicherheit.
    Max, der fünfzig Fuß tief in seiner Trauer steckte, las Spott in Henrys Gesicht.
    Das Rauschen in seinen Ohren verstummte.
    Er schlug Henry mit der Faust auf die Kehle. Ein kurzer, gerader Jab, in den er sein ganzes Gewicht legte und der direkt auf die Luftröhre zielte. Henry klappte die Kinnlade runter. Er schnappte nach Luft. Max landete einen rechten Haken auf seinem Kiefer und brach ihm den Knochen. Henry war ein großer, breiter Kerl, ein begeisterter Gewichtheber, dem auch bei 160 Kilo noch nicht der Schweiß ausbrach. Er schlug mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden auf.
    Max rannte aus der Küche.
    Eine idiotische Aktion. Henry stand ziemlich weit oben im Bund, und er war deren wichtigste Einnahmequelle. Der Bund dealte die besten Drogen in Rikers, und die wurden von Henrys Kindern in der Arschritze reingeschmuggelt. Die Arier würden Blut sehen wollen, sie würden ihn töten, um ihr Gesicht zu wahren.
    Drei Tage lang lag Henry auf der Krankenstation. Max sprang so lange für ihn ein und wartete die ganze Zeit auf die Rache. Die Wärter würden Bescheid wissen. Sie würden einen Hinweis kriegen und Geld, und sie würden wegschauen, genau wie alle anderen auch. Tief drinnen betete Max, sie mögen wenigstens vernünftig zielen und ein lebenswichtiges Organ treffen. Er hatte keine Lust, das Gefängnis im Rollstuhl zu verlassen.
    Aber nichts geschah.
    Henry behauptete, auf einem Fettfleck auf dem Küchenfußboden ausgerutscht zu sein. Am Sonntag war er – mit verdrahtetem Kiefer – wieder der Chef der Küche. Er hatte von Max’ Frau erfahren und schüttelte ihm bei ihrem Wiedersehen als Erstes die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Weshalb Max ein schlechtes Gewissen kriegte, weil er ihn niedergeschlagen hatte.
    Sandra wurde eine Woche nach ihrem Tod in Miami beigesetzt. Max bekam die Erlaubnis, bei der Beerdigung dabei zu sein.
    Sie war in einem offenen Sarg aufgebahrt. Max küsste ihre kalten, starren Lippen und schob seine Finger zwischen ihre gefalteten Hände. Dann fiel ihm auf, dass Blütenstaub auf den Kragen des dunkelblauen Nadelstreifenanzugs gefallen war, den man ihr angezogen hatte. Er stammte von den weißen Lilien in dem riesigen Gesteck am Kopfende des Sargs. Max wischte ihn weg.
    Bei der Begräbnisfeier sang ihr jüngster Bruder Calvin »Let’s Stay Together«, ihr Lieblingslied. Das letzte Mal hatte er es bei ihrer Hochzeit gesungen. Calvin hatte eine unglaubliche Stimme, klagend und eindringlich wie die von Roy Orbison. Das gab Max den Rest. Er heulte sich die Seele aus dem Leib. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint. Er heulte so
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