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Von Zweibeinern und Vierbeinern

Von Zweibeinern und Vierbeinern

Titel: Von Zweibeinern und Vierbeinern
Autoren: James Herriot
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überlegte. »Sie kann nicht die Staupe haben, Humphrey. Die Staupe tritt nicht so plötzlich auf.«
    »Ich bitte dich, Jim«, sagte er wieder, als ob er nichts gehört hätte. »Sei ein guter Kerl. Bitte, komm, und sieh dir Myrtle an.«
    »Gut«, sagte ich müde. »Ich bin in ein paar Minuten bei dir.«
    »Du bist wirklich ein guter Kerl, Jim, ein guter Kerl...«
    Ich legte den Hörer auf.
    Ich zog mich in Ruhe an – nicht so hektisch wie beim ersten Mal. Es klang ganz nach einer Wiederholung. Aber warum wieder nach Mitternacht? Ich war überzeugt, daß es auch diesmal wieder falscher Alarm war. Und doch – man konnte nie wissen.
    Die gleiche schwindelerregende Whiskywolke schlug mir bei der Begrüßung entgegen. Und Humphrey polterte zweimal schnaufend und stöhnend gegen mich, als er mich zur Küche hin drängte. Er deutete auf den Korb in der Ecke.
    »Da liegt sie«, sagte er und rieb sich die Augen. »Ich komme gerade aus Ripon zurück und hab sie so vorgefunden.«
    »Wieder beim Rennen gewesen, was?«
    »Ja, ich habe gewettet und getrunken und meinen armen leidenden Hund allein zu Hause gelassen. Ich bin ein Schuft, Jim, ja, das bin ich.«
    »Unsinn, Humphrey. Das habe ich dir doch schon damals gesagt. Du tust ihr nichts damit zuleide, wenn du mal einen Tag fort bist. Aber was ist mit den Zuckungen? Sie sieht doch völlig in Ordnung aus – im Moment jedenfalls.«
    »Ja, jetzt hat sie damit aufgehört. Aber als ich nach Hause kam, machte ihr Hinterbein immer so...« Und er machte eine zuckende Bewegung mit der Hand.
    Ich stöhnte im stillen. »Vielleicht wollte sie sich kratzen oder eine Fliege wegjagen.«
    »Nein, es war irgendwie anders. Ich weiß, daß sie leidet. Sieh dir doch diese Augen an.«
    Ich sah, was er meinte. Myrtles Beagleaugen waren ganze Seen voller Gefühl, und es war nicht schwer, einen schmelzenden Vorwurf in ihnen zu lesen.
    Obwohl ich wußte, daß es überflüssig war, untersuchte ich sie. Ich kannte das Ergebnis, die Diagnose – ohne Befund. Aber als ich versuchte, dem kleinen Männchen zu erklären, daß seinem Liebling nichts fehlte, wollte er es nicht wahrhaben.
    »Bitte, gib ihr doch eine von deinen wunderbaren Tabletten«, bat er. »Letztes Mal ist sie gleich davon gesund geworden.«
    Ich spürte, daß ich ihn beruhigen mußte. Also bekam Myrtle eine neue Vitaminzufuhr.
    Humphrey war außerordentlich erleichtert und schwankte zufrieden auf den Salon und die Whiskyflasche zu.
    »Ich brauche ein bißchen was, was mich aufrichtet nach diesem Schock«, sagte er. »Und du brauchst auch einen, nicht wahr, Jim, mein Junge?«
    Dieses Spielchen wiederholte sich in den folgenden Monaten noch mehrere Male – immer dann, wenn er beim Rennen gewesen war, und immer zwischen Mitternacht und ein Uhr. Ich hatte also reichlich Gelegenheit, das Geschehen zu analysieren und kam zu einem auf der Hand liegenden Schluß.
    Meistens war Humphrey ein ganz normaler, gewissenhafter Hundebesitzer, aber wenn er zuviel Alkohol getrunken hatte, schlug seine Zuneigung in weinerliche Sentimentalität um, und er wurde von Schuldgefühlen geplagt. Ich fuhr jedesmal zu ihm, wenn er nachts anrief, denn ich wußte, daß er in tiefer Not war und todunglücklich gewesen wäre, wenn ich mich geweigert hätte zu kommen. In Wirklichkeit behandelte ich Humphrey, nicht Myrtle.
    Es amüsierte mich, daß er mir meine Beteuerungen, mein Besuch sei eigentlich unnötig gewesen, nicht ein einziges Mal glaubte. Jedesmal wieder war er überzeugt davon, daß meine Zaubertabletten dem Hund das Leben gerettet hätten.
    O nein, ich ließ nie die Möglichkeit außer acht, daß Myrtle ihn ganz bewußt mit ihrem traurigen Blick traktierte. Hunde können sehr wohl ihre Mißbilligung ausdrücken. Ich nahm meinen eigenen Hund fast überall mit hin, aber wenn ich ihn einmal zu Hause ließ, um mit Helen ins Kino zu gehen, legte er sich unter unser Bett und schmollte, und wenn er wieder hervorkam, ignorierte er uns mindestens ein, zwei Stunden lang.
    Ich zitterte, als Humphrey mir er zählte, daß er beschlossen habe, Myrtle belegen zu lassen. Ich ahnte, daß mir eine schwere Zeit bevorstand. Genauso war es dann auch. Der kleine dicke Mann flüchtete sich in eine Reihe von alkoholischen Angstzuständen, die alle unbegründet waren, und entdeckte während der neun Wochen immer wieder neue eingebildete Symptome an Myrtle.
    Ich war sehr erleichtert, als sie fünf gesunden Jungen das Leben schenkte. Nun, dachte ich, würde ich etwas mehr Ruhe haben.
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