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Von Zweibeinern und Vierbeinern

Von Zweibeinern und Vierbeinern

Titel: Von Zweibeinern und Vierbeinern
Autoren: James Herriot
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einfach vor mir ein?«
    Ich setzte mich auf und blinzelte. »Entschuldige, Siegfried. Beinahe wär’s passiert. Ich war schon um fünf heute früh beim Ferkeln. Jetzt überkommt mich die große Müdigkeit.«
    »Aha«, sagte er lächelnd. »Dann wirst du dein Buch heute abend ja nicht brauchen.«
    Ich lachte. »Nein, heute bestimmt nicht.«
    Weder Siegfried noch ich litten an Schlaflosigkeit, aber wenn der Schlaf doch einmal ausblieb, nahmen wir beide Zuflucht zu bestimmten Büchern. Meines war Die Brüder Karamasow, ein großer Roman – und doch einschläfernd für mich wie sein Titel. Schon die schwierigen Namen am Anfang: »Alexej Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn von Fjodor Pawlowitsch Karamasow.« Im Laufe der Zeit hatte ich Gregorij Kutusow, Petrowitsch Poljenow, Stepanida Bedrijagina kennengelernt. Ein paar andere waren an mir vorbeigeschwommen.
    Bei Siegfried war es ein Buch über die Physiologie des Auges, das er neben sich auf dem Nachttisch hatte. Darin gab es eine Passage, bei der ihm immer die Augen zufielen. Er hatte sie mir einmal gezeigt: »Der erste Ziliarmuskel geht in den Ziliarkörper über, und wenn er sich zusammenzieht, zieht er den Ziliarkörper nach vorn, so daß die Spannung am Aufhängeband sich lockert. Der zweite Ziliarmuskel dagegen, ein kreisförmiger Muskel, ist in den Ziliarkörper eingebettet, und wenn er sich zusammenzieht, wird der Ziliarkörper gegen die Linse gedrückt.« Weiter kam er nie.
    »Nein«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Heute abend brauche ich kein Schlafmittel.« Ich rollte mich auf die Seite. »Übrigens, ich war heute morgen bei Matt Clarke.« Ich erzählte ihm, was Grandma Clarke gesagt hatte.
    Siegfried wählte sich einen neuen Grashalm aus und kaute weiter.
    »Ja, sie ist eine weise alte Frau, und sie hat viel gesehen. Und wenn sie recht hat, brauchen wir in Zukunft nichts zu bedauern – denn wir haben beide unsere Kinder genossen und sie von Anfang an immer möglichst viel um uns gehabt.«
    Ich war schon wieder am Einschlafen, als Siegfried mich abermals aufschreckte. Er richtete sich plötzlich auf.
    »Weißt du was, James«, sagte er. »Ich bin überzeugt, auch von unserem Beruf könnte man sagen, daß wir da im Augenblick die beste Zeit erleben.«
    »Meinst du?«
    »Bestimmt. Sieh dir die Neuerungen der letzten zwanzig Jahre an. Medikamente und Behandlungsmethoden, von denen wir früher nicht einmal zu träumen wagten. Wir können uns heute um unsere Tiere kümmern, wie man es vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Und die Bauern wissen es. Du siehst doch, wie sie sich am Markttag in der Praxis drängen, um sich Rat zu holen – sie haben heute mehr Respekt vor unserem Beruf, und sie wissen, daß es sich auszahlt, einen Tierarzt aufzusuchen.«
    »Das stimmt«, sagte ich. »Wir haben wirklich mehr zu tun denn je!«
    »Ja, das kann man sagen. Wirklich, James, ich wette, daß diese Jahre jetzt der Höhepunkt der Landpraxis sind.«
    Ich dachte einen Moment nach. »Du könntest recht haben. Aber wenn wir jetzt den Höhepunkt erreicht haben, bedeutet das dann nicht, daß es von nun an bergab geht?«
    »Nein, nein, natürlich nicht. Es wird nur anders, das ist alles. Ich denke manchmal, wir stehen erst am Anfang. Es gibt noch so viele Aufgaben! Wenn ich zum Beispiel an die Arbeit mit Kleintieren denke...« – Siegfried schwenkte seinen Grashalm auf mich zu, und seine Augen glänzten vor Begeisterung. »Ich sage dir, James. Es liegen große Zeiten vor uns!«
     
    Ende - 07 - Von Zweibeinern und Vierbeinern
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