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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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Leonhard
verlor die Kontrolle. Theresa hatte Glück, sie stauchte sich nur die Schulter
und hatte ein paar Schürfwunden. Leonhards Kopf wurde zwischen dem Hinterrad
und einem Stein eingequetscht und platzte auf.
     
    In der ersten Nacht im
Krankenhaus verschlechterte sich sein Zustand. Niemand untersuchte sein Blut,
es gab anderes zu tun. Theresa rief ihren Vater an, und Tackler schickte mit dem Learjet der
Firma einen Arzt aus Frankfurt; er traf zu spät ein. In Leonhards Körper waren
Gifte aus den Nieren in die Blutbahn gelangt. Theresa saß auf dem Flur vor dem
Operationssaal. Der Arzt hielt ihre Hand, während er mit ihr sprach. Die
Klimaanlage war laut, die Scheibe, die Theresa seit Stunden anstarrte, blind
vor Staub. Der Arzt sagte, es sei eine Urosepsis mit Multiorganversagen.
Theresa verstand ihn nicht. Urin sei in Leonhards Körper, die Überlebenschance
betrage zwanzig Prozent. Der Arzt sprach immer weiter, seine Worte schufen
Distanz. Theresa hatte fast vierzig Stunden nicht geschlafen. Als er wieder in
den Saal ging, schloss sie die Augen. Er hatte »Ableben« gesagt, und sie sah
das Wort in schwarzen Buchstaben vor sich. Es hatte nichts mit ihrem Bruder zu
tun. Sie hatte »Nein« gesagt. Einfach nur »Nein«. Sonst nichts.
     
    Am sechsten Tag nach der
Einlieferung stabilisierte sich Leonhards Zustand. Er konnte nach Berlin
geflogen werden. Als er in der Charite eintraf, war sein Körper von Nekrosen
überzogen, schwarzem, lederartigem Belag, der das Absterben der Zellen anzeigte.
Die Ärzte operierten ihn vierzehnmal. Daumen, Zeige- und Ringfinger der linken
Hand wurden entfernt. Die linken Zehen wurden im Grundgelenk abgenommen,
ebenso der rechte Vorderfuß und Teile des rechten Rückfußes. Es blieb nur ein
deformierter Klumpen übrig, kaum belastbar, Knochen und Knorpel drückten sichtbar
gegen die Haut. Leonhard lag im künstlichen Koma. Er hatte überlebt, die
Auswirkungen seiner Kopfverletzung ließen sich noch nicht einschätzen.
    Der Hippocampus ist Poseidons Zugtier, ein griechisches
Seeungeheuer, halb Pferd, halb Wurm. Nach ihm ist ein sehr alter Teil des
Gehirns in den Schläfenlappen benannt. Gedächtnisinhalte werden dort vom
Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis überführt. Leonhards Hippocampi waren verletzt. Als man ihn nach
neun Wochen aus dem Koma holte, fragte er Theresa, wer sie sei. Und dann, wer
er sei. Er hatte sein Gedächtnis vollständig verloren und konnte sich nichts
länger als drei oder vier Minuten merken. Die Ärzte versuchten ihm nach
unzähligen Tests zu erklären, dass es eine Amnesie sei, anterograd und
retrograd. Leonhard verstand ihre Erklärungen, aber nach drei Minuten und
vierzig Sekunden hatte er sie wieder vergessen. Er vergaß auch seine
Vergesslichkeit.
     
    Und während Theresa ihn
pflegte, sah er nur eine schöne Frau.
     
     
    Nach zwei Monaten konnten die
Geschwister in die Berliner Wohnung ihres Vaters ziehen. Jeden Tag kam für drei
Stunden eine Krankenschwester, ansonsten kümmerte sich Theresa um alles.
Anfangs lud sie noch Freunde zu Abendessen ein, dann ertrug sie es nicht mehr,
wie sie Leonhard ansahen. Tackler besuchte sie einmal im Monat.
     
    Es waren Monate der
Einsamkeit. Allmählich verfiel Theresa, ihr Haar wurde strohig, ihre Haut
fahl. Eines Abends holte sie das Cello aus dem Koffer, sie hatte es seit
Monaten nicht angerührt. Im Halbdunkeln des Zimmers spielte sie. Leonhard lag
auf dem Bett und döste. Irgendwann schlug er die Bettdecke zurück und begann zu
masturbieren. Sie hörte auf zu spielen und drehte sich zum Fenster. Er bat sie,
zu ihm zu kommen. Theresa sah ihn an. Er richtete sich auf und verlangte, sie
zu küssen, sie schüttelte den Kopf. Er ließ sich zurückfallen und sagte, sie
solle wenigstens ihre Bluse öffnen.
    Der vernarbte Stumpf seines
rechten Fußes lag wie ein Stück Fleisch auf dem weißen Laken. Sie ging zu ihm
und streichelte seine Wange. Dann zog sie sich aus, setzte sich auf den Stuhl
und spielte mit geschlossenen Augen. Sie wartete, bis er einschlief, stand auf,
wischte mit einem Handtuch das Sperma von seinem Bauch, deckte ihn zu und
küsste ihn auf die Stirn.
    Sie ging ins Bad und übergab sich.
     
    Obwohl die Ärzte es
ausgeschlossen hatten, dass Leonhard sein Gedächtnis zurückerlangen könnte,
schien das Cello ihn zu berühren. Während sie spielte, glaubte sie eine blasse,
eine kaum wahrnehmbare Verbindung zu ihrem früheren Leben zu spüren, ein
schwacher Abglanz der Innigkeit, die sie so sehr
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