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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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die erste Seite geschrieben. Es war »Der
große Gatsby« von Scott Fitzgerald. Das Buch lag zwei Jahre unberührt in
meinem Schreibtisch, bis ich es wieder in die Hand nehmen konnte. Sie hatte die
Stellen, die sie vorlesen wollte, blau angestrichen und daneben winzige Noten
gezeichnet. Nur eine Stelle war rot markiert, der letzte Satz, und wenn ich ihn
lese, kann ich noch immer ihre Stimme hören:
     
    »So regen wir die Ruder und
stemmen uns gegen den Strom - und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen
zu.«
     
    Der
Igel
     
    Die Richter zogen im
Beratungszimmer ihre Roben an, einer der Schöffen kam ein paar Minuten zu spät,
und der Wachtmeister wurde ausgetauscht, nachdem er über Zahnschmerzen
geklagt hatte. Der Angeklagte war ein grobschlächtiger Libanese, Walid Abou Fataris,
und er schwieg von Anfang an. Die Zeugen sagten aus, das Opfer übertrieb ein
wenig, die Beweismittel wurden ausgewertet. Man verhandelte über einen ganz
normalen Raub, für den eine Strafe von fünf bis fünfzehn Jahren vorgesehen ist.
Die Richter waren sich einig: Angesichts des Vorstrafenregisters des
Angeklagten würden sie ihm acht Jahre geben, an seiner Täterschaft oder Schuldfähigkeit
gab es keine Zweifel. Der Prozess plätscherte den ganzen Tag vor sich hin.
Nichts Besonderes also, aber es war auch nichts Besonderes zu erwarten gewesen.
     
    Es wurde drei Uhr nachmittags,
der Hauptverhandlungstag würde bald enden. Für heute blieb nicht mehr viel zu
tun. Der Vorsitzende sah auf die Zeugenliste, nur Karim, ein Bruder des
Angeklagten, musste noch angehört werden. >Na ja<, dachte der
Vorsitzende, >man weiß ja, was man von Verwandtenalibis zu halten hat<,
und sah ihn über seine Lesebrille an. Er hatte auch nur eine Frage an diesen
Zeugen, nämlich, ob er tatsächlich behaupten wolle, dass sein Bruder Walid zu
Hause gewesen sei, als das Pfandleihhaus in der Wartenstraße ausgeraubt worden
war. Der Richter stellte Karim die Frage so einfach wie möglich, er fragte
sogar zweimal nach, ob Karim sie auch verstanden habe.
    Niemand hatte erwartet, dass
Karim überhaupt den Mund aufmachen würde. Der Vorsitzende hatte ihn als Bruder
des Angeklagten lange belehrt, dass er schweigen dürfe. So war das Gesetz.
Jeder im Saal, auch Walid und sein Anwalt, war überrascht, dass er aussagen
wollte. Jetzt warteten sie alle auf seine Antwort, von der die Zukunft seines
Bruders abhängen sollte. Die Richter waren ungeduldig, der Anwalt gelangweilt,
und einer der Schöffen sah dauernd auf die Uhr, weil er noch den Fünfuhrzug
nach Dresden erreichen wollte. Karim war der letzte Zeuge dieser
Hauptverhandlung, die Unwichtigen hört man bei Gericht zum Schluss. Karim
wusste, was er tat. Er hatte es immer gewusst.
     
     
    Karim wuchs in einer Familie
von Verbrechern auf. Über seinen Onkel erzählte man sich, er habe im Libanon
wegen einer Kiste Tomaten sechs Menschen erschossen. Jeder der acht Brüder
Karims hatte eine Vorstrafenliste, deren Verlesung in den Strafprozessen bis
zu eine halbe Stunde dauerte. Sie hatten gestohlen, geraubt, betrogen, erpresst
und Meineide geschworen. Nur für Mord und Totschlag waren sie noch nicht
verurteilt worden.
     
    In der Familie hatten seit
Generationen die Cousins ihre Cousinen und die Neffen ihre Nichten geheiratet.
Als Karim auf die Schule kam, stöhnten die Lehrer: »Schon wieder ein Abou Fataris«,
und dann behandelten sie ihn wie einen Idioten. Er musste sich in die
hinterste Bank setzen, und sein erster Klassenlehrer erklärte ihm, dem
Sechsjährigen, er solle nicht auffallen, er dürfe sich nicht prügeln, und er
solle schweigen. Also schwieg Karim. Ihm wurde schnell klar, dass er nicht
zeigen durfte, dass er anders war. Seine Brüder schlugen ihm auf den
Hinterkopf, weil sie nicht verstanden, was er sagte. Die Mitschüler - in der
ersten Klasse waren es dank eines städtischen Integrationsmodells 80 Prozent Ausländer - machten
sich bestenfalls über ihn lustig, wenn er versuchte, ihnen etwas zu erklären.
Normalerweise schlugen auch sie ihn, wenn er zu anders wirkte. Also schrieb Karim
schlechte Noten. Ihm blieb nichts anders übrig.
    Als er zehn Jahre alt war,
hatte er sich Stochastik, Integralrechnung und analytische Geometrie aus einem
Lehrbuch beigebracht. Er hatte das Buch aus der Lehrerbibliothek gestohlen.
Aber für die Klassenarbeiten rechnete er sich aus, wie viele der lächerlichen
Aufgaben er falsch lösen musste, um eine unauffällige Vier minus zu bekommen.
Manchmal hatte er das
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